Bhopal - die andauernde Katastrophe
Am 3. Dezember 2024 jährt sich das bislang schlimmste Chemieunglück zum 40. Mal
- Hintergrund
Am 3. Dezember 1984 kam es in Indien zu einem verheerenden Chemieunfall - der Katastrophe von Bhopal, auch Bhopalunglück: Ausgetretenes Gas in einem Werk des indischen Unternehmens Union Carbide India Limited, kurz UCIL, tötete in drei Tagen mindestens 8000 Beschäftigte.
Insgesamt forderte die Katastrophe um die 20.000 Todesopfer. Rund 500.000 Menschen waren betroffen, 150.000 leiden bis heute an Verletzungen und Spätfolgen - auch in den nachfolgenden Generationen.
Die Hohe Varianz der Schätzungen zur Opferzahl erklären sich aus der Unkenntnis über die genau Zahl der Einwohner des betroffenen Elendsviertels in dieser Zeit. Es lebten damals etwa 100.000 Menschen in einem Radius von einem Kilometer rund um die Pestizidfabrik. Tausende erblindeten, Unzählige erlitten Hirnschäden, Lähmungen, Lungenödeme, Herz-, Magen-, Nieren-, Leberleiden und Unfruchtbarkeit.
Die Tragödie, hervorgerufen durch ein Gasgemisch aus Methylisocyanat und anderen toxischen Chemikalien, war den unzureichenden Sicherheitssystemen und verantwortungslosen Einsparungen der US-amerikanischen Betreiberfirma Union Carbide geschuldet. - Union Carbide hatte das Chemiewerk bewusst in ein Billiglohnland mit niedrigen Sicherheitsvorschriften verlegt.
Die mittlerweile stillgelegte Chemieanlage ist ein Krisenherd mit giftigen Abfällen und Stoffen, die offen oder in porösen Säcken und maroden Fässern gelagert werden. Die verbliebenen Schadstoffe entweichen in die Umwelt und schaffen dort nachhaltige Umweltprobleme - wie verseuchte Böden und Grundwasser. So leiden die Betroffenen noch heute unter den Folgen.
Die Sanierung des mit Quecksilber und krebserregenden Chemikalien vergifteten Geländes ist bis heute nicht erfolgt, obwohl nach einer Greenpeace-Studie die Kosten lediglich in der Größenordnung von 30 Millionen Dollar lägen. Denn Dow Chemical weigerte sich, das von Union Carbide ehemals genutzte Industriegelände von den hochgiftigen Überresten zu befreien, und so den Gifteintrag in Luft und Grundwasser zu beenden. Die Verantwortlichen begründen das damit, dass die von Dow Chemical 2001 aufgekaufte Union Carbide Corporation ihren Anteil von 50,9 Prozent an der Union Carbide India bereits 1994 verkauft hatte.
Kaum Entschädigung
Die indische Regierung verlangte 3 Milliarden US-Dollar Schadensersatz von Union Carbide. Erst nach langwierigen Rechtsprozessen und dem Heraushandeln eines Verzichts auf Strafverfolgung fällte das Obersten Gericht Indiens 1989 das Urteil von 470 Millionen Dollar Schadensersatz an den indischen Staat. (Zum Vergleich: damaliger Jahresumsatz der Firma: 9,5 Milliarden Dollar.)
Weitere 250 Millionen US-Dollar zahlten Versicherungen. Leider kam das Geld jedoch nur in geringen Teilen bei den Opfern an.
Die Rechtsprechung führte aufgrund der Komplizenschaft zwischen Regierung und Industrie zu dubiosen Abkommen. So kam das Urteil ohne angemessene Beteiligung der Betroffenen zustande, die nicht bei der Aushandlung des Abkommens zwischen Unternehmen und Regierung vertreten waren. Obwohl das Gericht eine Wiederaufnahme des Verfahrens billigte und die Regierung anwies, 100.000 potenziell Geschädigten, ohne akute Symptome eine Krankenversicherung zu ermöglichen, wurde diese nicht umgesetzt.
Spätfolgen
Der Gasausstoß tötete Tausende sofort. Viele Menschen, die zunächst überlebten, starben in den Folgejahren wegen mangelhafter medizinischer Versorgung. Falsche Diagnosen, verursacht durch die Weigerung von Union Carbide, India Limited (UCIL) detaillierte Informationen zu den freigesetzten Gasen preiszugeben, führten zu ineffektiver medizinischer Behandlung. Die verzögerte medizinische Hilfe sowie späte und unangemessene Entschädigung der Opfer ließen die Opferzahlen noch weiter steigen. Tuberkulose ist um ein vielfaches häufiger unter der betroffenen Bevölkerung, auch die Fälle an Krebserkrankungen.
Zehntausende Kinder, die nach der Katastrophe geboren wurden, leiden an Wachstumsstörungen und Missbildungen unterschiedlichster Art. In den Jahren nach der Katastrophe war die Rate der Totgeburten drei Mal höher als im nationalen Durchschnitt.
Profit vor Sicherheit
Die Hauptursache des Unglücks lag in der profitorientierten Unternehmenspolitik begründet. Ab 1977 produzierte der Konzern im zentralindischen Bhopal jährlich 2500 Tonnen des Insektizids Sevin produziert. Die Anlage war für eine Kapazität von 5000 Tonnen ausgelegt.
Methylisocyanat (MIC) ist direkt toxisch und verätzt Schleimhäute, Augen und Lungen. Bei den Bhopalopfern fand man vielfach auch schwere Verätzungen innerer Organe gefunden. Die Lagerung von großen Mengen Methylisozyanat in dicht besiedelten Gebieten war verboten - in Europa galt als Maximum eine halbe Tonne. In Bhopal lagerten 67 Tonnen. Es gab öffentliche Proteste dagegen, doch das Unternehmen konnte sich durchsetzen. Als der Absatz von Sevin sank, wurden Kosten gesenkt: Personalreduzierung, schlampige Wartungsintervalle und die Nutzung billigeren Stahls statt Edelstahl. Auch das Instandhaltungsarbeiten wurden reduziert und erfolgten durch immer mangelhafter geschulte Mitarbeiter.
MIC muss bei extrem niedrigen Temperaturen gelagert werden, aus Kostengründen wurde auch dies auf ein Minimum reduziert. Das Unternehmen erarbeitete auch keinen Katastrophen-Schutzplan für den Ernstfall. Staatliche Behörden schauten weg. Die Katastrophe zu Lasten der Ärmsten unter den Armen war hausgemacht.
Dubiose Abkommen
Die rechtlichen Verfahren waren nur wenig effektiv. Die wohlwollende Haltung der Regierung gegenüber der Industrie führte zu dubiosen Abkommen, die die Bemühungen der betroffenen Menschen unterminierten. Diese Art der Komplizität ist bekannt, aber schwer zu beweisen. Das Urteil wurde ohne angemessene Beteiligung der Betroffenen gesprochen, die auch nicht bei der Aushandlung des Abkommens zwischen Unternehmen und Regierung vertreten waren. Später veröffentlichte das Oberste Gericht eine Erklärung zur Rechtfertigung des Abkommens, trotz der offensichtlichen Widersprüche zu den tatsächlichen Gegebenheiten.
Obwohl das Gericht die Wiederaufnahme des Verfahrens billigte und die Regierung anwies, 100.000 Menschen, die zu diesem Zeitpunkt keine Symptome zeigten, möglicherweise aber später betroffen sein würden, eine Krankenversicherung zu ermöglichen, ist bisher wenig passiert. Die Gerichte erließen fromme Anordnungen, die die Regierung jedoch ignorierte.
Konsequenzen des Unfalls
Die Katastrophe von Bhopal führte zu einigen internationalen Rechtsänderungen, um solchen Unfällen vorzubeugen. Auch Indien erließ einige Gesetze. In der Praxis änderte sich nichts. Die Manager weigerten sich, Daten zu den ausgetretenen Gasen offen zu legen. Das zweite Appellationsgericht der USA bestätigte jedoch die Rechtmäßigkeit möglicher weiterer Forderungen seitens der Überlebenden.
Das fordert Greenpeace:
- Der Grundsatz der Umwelthaftung, das Vorsorge- sowie das Verursacherprinzip müssen durch internationale Regelungen unmittelbar durchgesetzt werden.
- Unternehmen müssen die Verantwortung und Haftung für die fortgesetzte Produktion und Anwendung von gefährlichen Chemikalien tragen. Dazu gehört die Beseitigung der verursachten Umweltschäden und die Zahlung von Schadensersatz an die Opfer von Katastrophen und Unfällen.
- Die EU muss aufhören, nur freiwillige Initiativen zu unterstützen. Dadurch blockiert sie den Fortschritt für eine Rechenschaftspflicht der Unternehmen auf globaler Ebene. Freiwillige Initiativen versagen bei dem Ziel, eine nachhaltige Entwicklung zu ermöglichen.
- Regierungen müssen die Rechte und den Schutz der Bürger und Gemeinschaften gewährleisten. Die Regierungen müssen den rechtlichen Rahmen dafür schaffen, dass multinationale Unternehmen keine "doppelten Standards" nutzen, sondern weltweit einheitlich höchste Sicherheitsstandards einhalten.
- Unternehmen und Regierungen müssen durch Haftung, Rechenschaftspflicht und Transparenz zur Verantwortung gezogen werden. Die Haftung von Unternehmen kann die Einführung von sauberen Produktionsweisen und Produkte befördern.
Update vom 19.07.2004
Gericht entscheidet für Bhopal-Opfer
Der indische Oberste Gerichtshof hat am 19. Juli 2004 verfügt, dass 15 Milliarden Rupien an die Überlebenden der Chemiekatastrophe von Bhopal 1984 auszuzahlen seien. Die Summe entspricht rund 327 Millionen US-Dollar. Sie gehört zu jenen 470 Millionen, mit denen das verantwortliche US-Unternehmen Union Carbide sich 1989 freigekauft hatte. Die indischen Behörden haben das Geld bis heute nicht vollständig ausgezahlt.
Den Betrag müssen sich nach Rechnung von Greenpeace Indien etwa 567.000 Überlebende teilen. Das heißt, auf jede Person entfallen rund 570 US-Dollar Entschädigung. Mehr gibt es nicht für den Verlust der nächsten Angehörigen, der Gesundheit, des Lebenswillens. 570 US-Dollar für ständige ärztliche Behandlung und Medikamente. Für ein besseres Krankenhaus. Für das Überleben an einem Ort, der bis heute nicht dekontaminiert wurde. Inzwischen ist die dritte Generation betroffen.
Das Desaster ging auf mangelhafte Sicherheitsvorkehrungen und kurzsichtige Einsparungen zurück. Der Hauptverantwortliche, Warren Anderson, wurde 2002 von Greenpeace in einem New Yorker Apartment aufgespürt. Erst als 36 der Überlebenden im Jahre 2002 vor Gericht gingen, kam langsam Bewegung in die Sache.
Firmenangaben
Union Carbide India Limited, Bhopal-India
Chief Executive Official zum Zeitpunkt der Katastrophe: Warren Andersen
Das Unternehmen gehört heute zu Dow Chemical, Chief Executive Official ist Ravi Muthukrishnan. Das indische Unternehmen liefert hauptsächlich Chemikalien und nur wenige Endprodukte. Nach dem Zusammenschluss mit Union Carbide wurde Dow zum größten Chemiekonzern der Welt. Das Hauptquartier von Dow befindet sich in Midland, Michigan, USA.
Unfallort: Bhopal, Indien, am 03.12.1984
Firmenaktivität: Chemische Produktion. In erster Linie Methylisozyanat für die Herstellung von Pestiziden (z.B. Sevin).
Art des Unfalls: Unfall, der zum Ausstoß von Gasen führte, hauptsächlich Methylisozyanat (MIC), Mono-Methylamin, Kohlenmonoxid und möglicherweise bis zu 20 andere Chemikalien.
Unfallschäden:
Todesopfer: Mehr als 8.000 Menschen starben während der ersten drei Tage. 520.000 Menschen waren den giftigen Gasen ausgesetzt. 150.000 Opfer leiden noch unter chronischen Folgen. Heute noch stirbt im Schnitt alle zwei Tage ein Mensch an den Folgen der Katastrophe.
(Autor: Andreas Bernstorff)