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Jürgen Knirsch, Greenpeace-Experte für Handel
© Chris Grodotzki / Greenpeace

Interview mit Jürgen Knirsch zum EU-Mercosur-Assoziierungsabkommen

Greenpeace Deutschland veröffentlicht heute den bislang unter Verschluss gehaltenen Vertragstext zum EU-Mercosur-Assoziierungsabkommen, den die EU und die vier Mercosur-Staaten Brasilien, Argentinien, Paraguay und Uruguay bereits am 18. Juni abgeschlossen haben. Auf der Plattform trade-leaks.org ist der vollständige Text einsehbar. Das EU-Mercosur-Abkommen gilt als Brandbeschleuniger für den brasilianischen Urwald, da Umweltaspekte in dem Vertragstext nur nachrangig behandelt sind – trotz der drängenden Probleme, die sich vor allem in verheerenden Waldbränden in Südamerika manifestieren. 

Die EU-Kommission hat gesagt, dass "die EU die transparenteste Verhandlungsführerin der Welt ist". Greenpeace trägt durch die Veröffentlichung der Dokumente dazu bei, dass sie diesem Anspruch gerecht wird. Jürgen Knirsch, Greenpeace-Experte für Handel, ordnet im Interview den aktuellen Leak ein, was von der EU versäumt wurde und nun getan werden muss.

Greenpeace: Greenpeace veröffentlicht heute den Text des Assoziierungsabkommens zwischen der EU und den Mercosur-Staaten. Das ist aber nicht das Gleiche wie das EU-Mercosur-Handelsabkommen. Worum geht es in diesem Vertrag?

Jürgen Knirsch: Das Assoziierungsabkommen ist der übergeordnete Vertrag, das Handelsabkommen ist darin eingebettet. In diesem Assoziierungsabkommen geht es auch um Fragen der politischen Zusammenarbeit, um die Rolle der Menschenrechte, um Geschlechtergerechtigkeit, um Frieden und Sicherheit – das heißt unter anderem um Waffenexporte. Das Assoziierungsabkommen ist auch deswegen interessant, weil es aufzeigt, welche Strukturen – etwa Räte, Komitees und Arbeitsgruppen – für die Durchführung des Abkommens geschaffen werden. Und natürlich, wer in diesen Gremien sitzt, und wer welche Macht hat.

Außerdem gab es gerade im Kapitel “Handel und nachhaltige Entwicklung” im Handelsabkommen Bezüge auf diesen übergeordneten Text, die jetzt erst richtig klar werden. Man konnte dieses Kapitel vorher gar nicht vollständig verstehen, weil an vielen Stellen gesagt wurde: Das klären wir dann im Assoziierungsabkommen. 

Welche Punkte sind darin aus Umweltschutzsicht besonders besorgniserregend?

Besorgniserregend ist die Tatsache, dass die EU-Kommission nicht den Handlungsspielraum genutzt hat, den sie gehabt hätte. Wir haben ja seit geraumer Zeit die Debatte, ob dieses Abkommen tatsächlich hilft, um zum Beispiel im Amazonas Umweltmaßnahmen zu verstärken und das Klimaabkommen von Paris umzusetzen. Und da sehen wir: Es hilft in beiden Fällen nicht. Im Text steht zwar drin, dass man vielleicht an der und der Stelle gemeinsam arbeiten müsste – allerdings ohne das zu konkretisieren. Die Möglichkeit, das konkreter auszuformulieren, wäre mit dem Assoziierungsabkommen gegeben gewesen, sie wurde aber nicht genutzt. Und das, nachdem wir ja jetzt seit mindestens einem Jahr eine sehr intensive Debatte über den Amazonas, die Brände und das Handelsabkommen haben. Da hätte die Kommission einen wichtigen Schritt machen können. Sie hätte nämlich Umwelt- und Klimaschutz als sogenannten “wesentlichen Bestandteil” des Abkommens erklären können.

Das sind die sogenannten “essential elements”.

Genau, und diese "essential elements" sind mit scharfen Reaktionsmöglichkeiten verbunden, sie haben Macht. Das heißt, wenn ein Land gegen ein "essential element" verstößt, kann der andere Handelspartner Sanktionen ergreifen. Nehmen wir mal an, Bolsonaro würde tatsächlich den Austritt aus dem Pariser Klimaschutzabkommen erklären. So wie das Abkommen jetzt gestrickt ist, bliebe der EU nur zu sagen: Ja, schade, das hatten wir doch anders verabredet. Wenn Klimaschutz allerdings ein wesentlicher Bestandteil wäre, könnte die EU hergehen und darauf pochen: Hier wird etwas verletzt oder nicht umgesetzt, was wir eigentlich im Abkommen stehen haben. Wir akzeptieren darum nicht die 99.000 Tonnen mehr Rindfleisch, die wir euch eigentlich laut Abkommen abnehmen würden. Oder sie könnte sagen: Das ist ein solcher Bruch der internationalen Zusammenarbeit, wir erklären das Abkommen mit Brasilien aufgekündigt – oder sogar mit allen Ländern.

Häufiger liest man, der EU-Mercosur-Deal bedeutete – aufs Einfachste heruntergebrochen – “Autos gegen Kühe”. Kannst du kurz erklären, was es damit auf sich hat?

Dieser Autos-gegen-Kühe-Deal besagt, dass die Europäische Union ihre Industriegüter besser in den Mercosur-Ländern unterbringen kann, weil die Zölle dafür abgesenkt werden. Bisher sind da noch Zölle auf Pestizide und Arzneimittel, auf Autos, auf Autoteile, auf Güter der Maschinen- und Elektroindustrie, die dann natürlich billiger werden, wenn sie zollfrei oder zollreduziert in die Mercosur-Länder kommen. Derzeit liegen die Zölle für diese Produkte zwischen zehn und 20 Prozent, bei Autos derzeit 35 Prozent, Die sollen mit diesem Abkommen gegen null gefahren werden, zum Teil sofort, zum Teil im Laufe einiger Jahre. Deutschland ist für diese Produkte der wichtigste Exporteur in den Mercosur.  

Der Kühe-Part heißt, dass mit diesem Deal im Gegenzug mehr Rindfleisch nach Europa kommen kann – aber auch mehr Geflügelfleisch, mehr Bioethanol, das aus Zuckerrohr hergestellt werden kann. Also kommen mehr Agrarprodukte aus dem Mercosur-Ländern nach Europa. Dafür werden die Zölle abgesenkt oder die Quoten erhöht, die bisher auf diesen Produkten liegen. 

Das ist ein Deal, wie er im letzten Jahrhundert hätte stattfinden können: Die Mercosur-Länder werden auf die Rolle der Rohstofflieferanten reduziert, und wir schicken unsere High-Tech-Produkte, unsere SUVs und unsere Chemieprodukte dorthin. Das ist nicht nur aus entwicklungspolitischer Sicht schrecklich, sondern auch fürs Klima. Weil wir einerseits eine industrialisierte Landwirtschaft fördern, von der wir wissen, dass sie das Klima anheizt, und gleichzeitig den klimaschädlichen Individualverkehr durch den Export von mehr Autos fördern. 

Der neue EU-Handelskommissar Vladis Dombrovskis hat sich öffentlich dafür ausgesprochen, die Nachhaltigkeitskapitel in Handelsabkommen schärfer zu formulieren. Gibt das Hoffnung für ein besseres EU-Mercosur-Abkommen?

Die Frage, die da mitschwingt, ist: Hilft es, wenn das Nachhaltigkeitskapitel sanktionsfähig wäre? Was es bislang ja nicht ist. Die Antwort lautet nein, jedenfalls nicht alleine. Wir hätten dann zwar ein Kapitel, das besser wäre und Biss hätte, aber das würde an dem ganzen Mechanismus ja nichts ändern. Es würde trotzdem dieser unsinnige, veraltete Deal stattfinden: Wir würden diese Länder nach wie vor benutzen, um von ihnen billige Rohstoffe zu bekommen – die dann vielleicht etwas umweltfreundlicher abgebaut oder angebaut werden. Und wir schicken mit Klimaschutz nicht in Einklang stehende Autos dorthin. Die anderen Kapitel des Abkommens würden damit auch nicht nachhaltiger.

Bisher hat man halt diesen Trick eingesetzt: Man setzt ein Nachhaltigkeitskapitel auf, was schöne Worte beinhaltet, aber nutzlos ist, und die anderen Kapitel waren mehr oder weniger frei von Nachhaltigkeitsforderungen. Deshalb lautet die richtige Forderung: Dieses Abkommen, das seit 20 Jahren in der Verhandlung ist, muss gestoppt werden, wenn man mit diesen Ländern einen gerechten Handel im Einklang mit den Grenzen des Planeten betreiben will. Und dagegen spricht im Prinzip ja gar nichts, Greenpeace ist ja weder gegen Handel noch gegen Handelsabkommen per se. Man muss nur von vornherein dafür sorgen, dass das Ganze transparent verhandelt wird und dass auch alle Beteiligten tatsächlich zu Wort kommen können. 

Man müsste also bei Null anfangen.

Das ist jetzt die Gefahr in der Debatte: dass man das zu retten versucht, indem man entweder dieses Nachhaltigkeitskapitel schärft oder von Brasilien in Zusatzvereinbarungen verlangt, dass sie dieses oder jenes machen. Das ist einfach ein faules Abkommen. Wenn man da jetzt Kosmetik betreibt, und eine neue Schale um den verfaulten Apfel tut, wird es das rotte Innenleben nicht verändern.

Wie schätzt du die Kritik aus Deutschland ein? Die Bundeskanzlerin hat sich ja kritisch geäußert, auch die SPD. Gibt es auch Stimmen, die sagen: Wir müssen das neu verhandeln? Oder fordern die kritischen Stimmen aus Deutschland auch eher so: Na ja, wir müssen irgendwie nachbessern.

Letzteres ist bei den meisten der Tenor. Deutschland profitiert schließlich am meisten von diesem Abkommen. Wenn das umgesetzt wird, wie es geplant ist, ist die deutsche Wirtschaft der Hauptgewinner. Die deutsche Automobilindustrie, die Pestizid- und pharmazeutische Industrie, die Maschinenbauindustrie, selbst Teile der exportorientierten deutschen Landwirtschaft werden davon profitieren, weil zum Beispiel Milchprodukte günstiger auf die Mercosur-Märkte kommen können. 

Interessanterweise gab es aber – und das ist ein bisschen untergegangen in der Debatte – im September eine deutsche Agrarministerkonferenz, bei der auch EU-Mercosur auf der Tagesordnung stand. Alle teilten die Bedenken, “dass einer Ratifizierung des Mercosur-Abkommens vor dem Hintergrund der anhaltenden Abholzung des Regenwaldes und der daraus resultierenden negativen Folgen für Umwelt und Klima, für die Menschenrechte der ortsansässigen Bevölkerung sowie für die Landwirtinnen und Landwirte in Europa derzeit nicht zugestimmt werden kann”, so das Protokoll der Sitzung vom 25. September 2020. Und sie forderten Nachverbesserungen ein. Elf Bundesländer gingen sogar weiter und forderten vom Bund, die Ratifizierung des Abkommens auszusetzen! Das waren die Bundesländer Berlin, Brandenburg, Bremen, Hamburg, Hessen, Mecklenburg-Vorpommern, Saarland, Sachsen, Sachsen-Anhalt, Schleswig-Holstein und Thüringen. Wer diesen Beschluss nicht unterstützte, waren unter anderem die Autobauer-Ländle Bayern, Baden-Württemberg und Niedersachen.

Wie bewertest du die Transparenz der Verhandlungen?

Die EU-Kommission behauptete bereits mehrfach, sie sei mit Blick auf Handelsvereinbarungen in Sachen Transparenz führend auf der Welt. Unsere Erfahrungen bei EU-Mercosur sind leider ganz andere. Die Kommission hat letztlich dann Kapitel offiziell veröffentlicht, wenn es vorher einen Leak von Greenpeace oder von anderen Nichtregierungsorganisationen gab. Selbst beim hochumstrittenen TTIP-Abkommen mit den USA, bei dem die mangelnde Transparenz ein wesentliches Thema war, hat die Kommission mehr Dokumente veröffentlicht als zu EU-Mercosur! Und das betrifft nur den Handelsteil. 

Noch schlimmer wird es, wenn es um das Assoziierungsabkommen geht. Wir haben auch über unsere Rechtsanwältin versucht, mit Mitteln des Informationsfreiheitsgesetzes und des Umweltinformationsgesetzes an den Text zu kommen. Ihr hat das Auswärtige Amt, das für den Assoziierungsteil zuständig ist, geantwortet: “Der Text ist noch nicht öffentlich verfügbar. Er unterliegt der Verpflichtung zur Amtsverschwiegenheit.” Warum diese Verschwiegenheit, wenn Teile des Textes zwei Jahren verabschiedet worden sind? Gerade dieses Assoziierungsabkommen beinhaltet Fragen der politischen Zusammenarbeit und Sicherheit. Genau das ist doch für die Gesellschaft von Interesse.

Greenpeace hat in der Vergangenheit gegen das europäisch-japanische Handelsabkommen JEFTA protestiert, gegen das CETA-Abkommen mit Kanada und insbesondere gegen TTIP, das Transatlantische Freihandelsabkommen. Was ist das Problem mit internationalen Handelsabkommen?

Wir haben immer das Grundproblem, dass im Vordergrund wirtschaftliche Interessen stehen, das heißt die Exportmöglichkeiten für die deutsche und europäische Industrie zu verbessern. Aber nicht das, was aus Greenpeace-Sicht im Vordergrund stehen sollte, nämlich der Schutz des Planeten, der Menschen, die darauf leben, und ein gemeinschaftlicher, sorgfältiger Umgang mit den limitierten Ressourcen, die wir nun mal haben. 

Wir haben zudem bei allen Abkommen das Problem der fehlenden Transparenz. Gerade bei den neueren Abkommen – und da zählt auch EU-Mercosur dazu – gibt es außerdem die Schwierigkeit, dass sie als “lebende Abkommen” gestrickt sind. Das heißt, sie können sich aus sich heraus weiterentwickeln. Dagegen spricht an sich nichts. Aber diese Weiterentwicklung passiert, ohne dass eine parlamentarische Kontrollmöglichkeit da ist. Das heißt, die Gremien sagen: Wir verändern jetzt mal einen Anhang. Das klingt relativ harmlos. Aber kann zum Beispiel dazu führen, dass in der EU, wie bei CETA passiert, die Grenzwerte für Pestizide verändert werden, ohne dass jetzt nochmal das Europäische Parlament überhaupt involviert war, geschweige denn nationale Volksvertretungen. 

Das heißt, wir schaffen mit diesem Abkommen einen Mechanismus, der sich weiterentwickelt, aber ohne eine parlamentarische Kontrolle und auch ohne Beteiligung von zivilgesellschaftlichen Strukturen. 

Verändert die Veröffentlichung dieser Papiere die Diskussion um das Abkommen? Was erhofft sich Greenpeace davon?

Wir erhoffen uns, dass die Veröffentlichung deutlich macht, dass das Abkommen keine notwendigen Klima- oder Umweltschutzmaßnahmen bewirken kann und wird. Wir möchten aufzeigen, dass die Kommission nicht den Spielraum genutzt hat, den sie gehabt hätte, um dies zu ändern. Wir hoffen drittens, dass klar wird, dass dieses Abkommen von Grund auf neu gestaltet werden muss und dass alle Bemühungen, in letzter Minute noch irgendwelche Änderungsmaßnahmen und interpretative Zusatzerklärungen zum Abkommen eigentlich sinnlos sind, weil sie nichts verbessern können, was von Grund auf falsch angelegt worden ist.

>>> Greenpeace setzt sich dafür ein, dass das Abkommen nicht ratifiziert wird. Helfen Sie mit!

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