Debatte um Stickoxidgrenzwerte: Interview mit Marion Tiemann, Greenpeace-Expertin für Mobilität
- Im Gespräch
Lungenärzte fordern niedrigere Grenzwerte für Stickoxide – und haben damit eine hitzige Debatte ausgelöst. Im Interview bewertet Marion Tiemann von Greenpeace die Gemengelage.
Seit etwa 100 Lungenärzte in Deutschland, angeführt von Prof. Dr. Dieter Köhler, die Grenzwerte für Stickoxide und Feinstaub infrage gestellt haben, fliegen die Fetzen. So trafen etwa in Anne Wills Polit-Talkshow Lungenexperten und Politiker mit unterschiedlichen Auffassungen aufeinander. Mittlerweile haben ihm zahlreiche Lungenfachärzte und Forscher – national wie international – widersprochen.
Auf politischer Seite jubelt die FDP, die Fahrverbote für unverhältnismäßig hält. Begeistert ist auch Bundesverkehrsminister Andreas Scheuer (CSU), der die Gelegenheit beim Schopfe packen will, um die europäischen Grenzwerte aufzuweichen. Neue Auswertungen zeigen, dass die Luft insgesamt im vergangenen Jahr etwas besser geworden; in mindestens 35 Städten werden die Grenzwerte aber immer noch überschritten.
Die Bevölkerung ist womöglich irritiert und fragt sich, wie das alles einzuordnen ist. Im Interview bewertet Marion Tiemann, Greenpeace-Expertin für Mobilität, die Situation.
Greenpeace: Der ehemalige Lungenarzt Dieter Köhler spricht dem Grenzwert von 40 Mikrogramm pro Kubikmeter Luft die wissenschaftliche Basis ab. Die zugrunde gelegten Studien seien schlecht, die daraus gezogenen Analysen falsch. Woher nimmt er das?
Hinter seinem zweiseitigen Papier, in dem er die Grenzwerte anzweifelt, steckt keine eigene Studie, er liefert keinen Beleg für seine Position.
Es gibt hingegen zahlreiche Studien zu Stickoxiden, sowohl toxikologische als auch epidemiologische, die belegen, dass Stickoxide gesundheitsschädlich sind. Die toxikologischen Studien ziehen ihre Erkenntnisse aus Experimenten. Das heißt, dass Probanden den Schadstoffen ausgesetzt werden – in geringen Dosen und für kurze Zeit, etwas anderes wäre ethisch nicht zu vertreten. Epidemiologische Studien erforschen Zusammenhänge. So stellten die Wissenschaftler einen Zusammenhang zwischen dreckiger Luft in Städten und Erkrankungen fest, die in anderen Studien auf Stickoxide und Feinstaub zurückgeführt wurden: nämlich Erkrankungen der Atemwege und des Herzkreislaufsystems.
Worauf fußt dann Köhlers These, Stickoxide seien nicht gefährlich?
Köhler sagt, Stickoxide seien ungefährlich, weil er in seiner Praxis keine Patienten hatte, bei denen er eindeutig die Symptome auf das Einatmen von Stickoxiden zurückführen konnte. Bei einem Raucher mit Lungenkrebs kann man das aber auch nicht. Und dennoch leugnet niemand einen Zusammenhang zwischen Rauchen und Lungenkrebs – weil zahlreiche Studien diesen belegen. Ähnlich ist es bei Stickoxiden. Der Unterschied: Jeder kann aufhören zu rauchen, aber keiner kann aufhören zu atmen. Deshalb hat jeder Mensch ein Recht auf Luft, die nicht krank macht.
Relativ rasch haben internationale Lungenfachärzte widersprochen. Wieso? Sie hätten sich doch auch einfach raushalten und es als rein deutsche Debatte sehen können.
Weil sie Köhlers Position für falsch und womöglich gefährlich halten. Das Forum der internationalen Lungengesellschaften (FIRS) stützt die wissenschaftlichen Studien der Weltgesundheitsorganisation, die Köhler infrage gestellt hatte, und befürwortet ausdrücklich den europäischen Grenzwert. Viele Experten kritisieren aber auch den aktuellen Wert, weil ihnen dieser immer noch viel zu hoch ist, um die Menschen ausreichend zu schützen.
Man muss sich zudem immer vor Augen führen, dass auch in Deutschland nur sehr wenige Lungenärzte Köhler gefolgt sind. Er hat etwa 3800 in der Gesellschaft für Pneumologie organisierte Ärzte angeschrieben. Etwa 100 haben sich ihm angeschlossen, also nur drei Prozent der praktizierenden Lungenärzte in Deutschland. Darunter befindet sich auch ein ehemaliger Entwickler von Dieselmotoren. Das hat mit Wissenschaft nichts zu tun.
Kerzen, Zigaretten, Gasherde: allesamt Emittenten von Stickoxiden, wie Köhler betont. Ist die Gesundheit durch alltägliche Gebrauchsgegenstände also viel stärker bedroht als durch Dieselabgase?
Man kann nicht Äpfel mit Birnen vergleichen: Kerzen, Zigaretten und Gasherde belasten die Gesundheit kurzfristig. In der Diskussion um Stickoxide geht ist um eine langfristige Belastung. Diese hat besondere Auswirkungen auf die Gesundheit.
Die Grenzwerte für die Außenluft sind Jahresmittelwerte, und wichtig ist vor allem, dass diese sich nicht an einem gesunden Erwachsenen orientieren dürfen. Kinder, Asthmatiker, ältere Menschen und Schwangere sind besonders durch Stickoxide und Feinstäube gefährdet – sie müssen der Maßstab sein.
Interessant ist, dass sich Bundesverkehrsminister Andreas Scheuer rasch zu Wort gemeldet hat: „Der Aufruf der Lungenärzte muss dazu führen, dass die Umsetzung der Grenzwerte hinterfragt und gegebenenfalls verändert wird." Die FIRS-Wissenschaftler erwähnt er nicht. Welche Rolle spielt er?
Das macht mich nur noch wütend. Scheuer hat sich kaum dafür eingesetzt, Dieselfahrzeuge schnell so nachzurüsten, dass sie weniger Stickoxide ausstoßen. Er ist aber sofort bereit, den Grenzwert zu kippen, nur weil drei Prozent der Lungenärzte ihn anzweifeln. Er tritt das Recht auf saubere Luft für alle mit Füßen. Ich frage mich manchmal, was wir für eine Verkehrspolitik hätten, wenn Scheuer Asthmatiker wäre.
Egal ob Tempolimit oder Stickoxidbelastung in Städten: Der Verkehrsminister stellt sich mit haarsträubenden Argumenten auf die Seite der Autoindustrie. Ernstgemeinte Ambitionen für eine Verkehrswende hin zu geteilter E-Mobilität und dem Rad sind nicht erkennbar. Der Klimaschutz, saubere Luft und lebenswerte Innenstädte erfordern aber ein Umdenken. Langfristig tut Scheuer der Autoindustrie damit keinen Gefallen. Zahlreiche Länder, unter anderem Frankreich, Großbritannien und Dänemark, haben längst das Aus für Diesel und Benziner beschlossen. Während Chinas Elektroautoindustrie boomt, verliert Deutschland zunehmend den Anschluss.
Die regelmäßige Überschreitung des Grenzwerts in vielen Städten hat zu ersten Fahrverboten geführt. Bringen die denn überhaupt was?
In Hamburg hat die Sperrung zweier Straßen gezeigt, dass eine Fahrverbotszone um eine Stickoxid-Messstation herum nicht viel bringt. Die Luft ist in weiten Teilen der Stadt schlecht, nicht nur an einzelnen Straßenabschnitten. Zu versuchen, nur die Luft um die Messstationen herum weniger dreckig zu machen, wird dem Problem nicht gerecht. Es braucht großflächige Lösungen, um die Luft im gesamten Stadtgebiet zu verbessern. Die Fahrzeuge, die die gesetzlichen Stickoxid-Grenzwerte nicht einhalten, haben nichts in den Städten zu suchen.
Generell müssen wir aber so schnell wie möglich ganz weg vom Diesel und Benziner, weil diese dreckigen Autos nichts mehr auf unseren Straßen zu suchen haben.
Sind Fahrverbote also unverhältnismäßig und schaden nur Dieselfahrern?
Die Luft in Städten ist schlecht, weil die Autoindustrie ihre Kunden betrogen und die Politik jahrelang dabei zugesehen hat. Deshalb hat die EU Deutschland verklagt; auch Anwohner sind vor Gericht gezogen. Kurzfristig braucht es verbindliche Hardware-Nachrüstungen auf Kosten der Autoindustrie und eine Blaue Plakette, mit der sich Fahrverbote organisieren lassen. Langfristig bedarf es Verkehrskonzepten, die generell nicht auf das Auto, sondern auf Bus, Bahn und das Rad setzen.
Wie bewertet Greenpeace den Grenzwert von 40 Mikrogramm pro Kubikmeter Luft?
Es gibt keinen Zweifel an der Gültigkeit der Grenzwerte. Im Gegenteil, der Sachverständigenrat für Umweltfragen sowie die WHO fordern sogar eine Senkung der aktuellen Grenzwert, um die Menschen wirklich zu schützen.
In Europa gilt das Vorsorgeprinzip. Wenn es also Erkenntnisse gibt, dass bestimmte Stoffe schädlich sind, müssen die zuständigen Politiker die Gefahr minimieren. Greenpeace fordert daher, den Grenzwert zu senken.
Es gibt Feinstäube, die bei der Verbrennung von Diesel und Benzin entstehen, aber so klein sind, dass sie gar nicht erst gemessen werden. Erste Studien deuten darauf hin, dass diese Teilchen noch viel gefährlicher für unsere Gesundheit sind. Das ist ein Grund mehr, schnell aus Diesel und Benziner auszusteigen und das Auto in der Stadt überflüssig zu machen!