Greenpeace-Aktivist: innen schaffen echte Schutzgebiete
- Hintergrund
Natürliche Riffe sind in der Nordsee äußerst selten. Eines davon ist das Sylter Außenriff, ein 5300 Quadratmeter großes Gebiet aus Sandbänken und Steinriffen rund 35 Seemeilen westlich vor Sylt. Es ist ein bedeutender Lebensraum für zahlreiche Meereslebewesen: Angefangen bei Tieren wie Seeanemonen, die auf den Steinen festsitzen, über Fische und Krebse, die zwischen ihnen Nahrung und Schutz finden, bis hin zu Seevögeln, Robben und Schweinswalen, die sich wiederum an ihnen satt fressen. Schweinswale kommen vor allem zur Paarung und Geburt in das Schutzgebiet. Während der Sommermonate kommt ihnen das reiche Futterangebot am Riff zugute.
"Schutzgebiet" nur auf dem Papier
2004 meldete die Bundesregierung das Sylter Außenriff der EU-Kommission als eines von zehn „Natura 2000-Schutzgebieten“ in Nord- und Ostsee. Doch bis heute konnten sich das verantwortliche Umweltministerium und das für Fischereifragen zuständige Landwirtschaftsministerium in Berlin nicht auf Schutzmaßnahmen einigen. So darf weiterhin nach Lust und Laune gefischt werden. Baumkurren und Grundschleppnetze, mit denen Garnelen und Plattfische erbeutet werden, pflügen den Meeresboden regelrecht um, und die Stellnetzfischerei gefährdet das Leben der Schweinswale. Viele Tiere verfangen sich in den Netzen und ertrinken.
Weiteren Raubbau betreibt die Hamburger Firma OAM Deme-Mineralien. Sie fördert Sand und Kies für die Bauindustrie – mitten im Schutzgebiet. Riesige Saugbagger tragen den Boden metertief ab und entreißen dem Meer zum Teil ganze Sandbank-Lebensräume mit mehreren Millionen Organismen. Viele Meereslebewesen können sich auf den abgebauten Flächen nicht wieder ansiedeln, andere werden vom aufgewirbelten Sand überlagert und erstickt.
Greenpeace versenkt Natursteine – und wird verklagt
Quasi aus Notwehr beschlossen Greenpeace-Aktivist: innen im August 2008, das Riff vor weiterer Zerstörung zu schützen. Die Idee: Tonnenschwere Findlinge am Meeresgrund lassen die Schleppnetzfischenden weiträumig ausweichen. Ihre Netze könnten sonst an den Hindernissen hängen bleiben. Mit 1000 Granitsteinen aus Deutschland, Schweden und Norwegen an Bord fuhren die Aktivist: innen mit der "Beluga 2", der "Argus" und einem gecharterten Arbeitsschiff auf die Nordsee. In mehreren Arbeitsgängen versenkten sie am Sylter Außenriff insgesamt 320 Natursteine – bis sie von den Behörden gestoppt wurden: Auf Anweisung des Bundesverkehrsministeriums und per gerichtlicher Untersagungsverfügung beendete die Wasser- und Schifffahrtsdirektion (WSD) Nord die Aktion. Begründung: Die Steine könnten die Fischerei gefährden und der Umwelt schaden. Zudem sei es per Gesetz verboten, Abfälle und sonstige Stoffe und Gegenstände in die Hohe See einzubringen. Greenpeace klagte gegen die Untersagungsverfügung der WSD. Seither beraten die Gerichte um die Rechtmäßigkeit der Aktionen.
Das Verwaltungsgericht Schleswig gab Greenpeace in erster Instanz recht, die Bundesregierung ging in Revision. Das Bundesverwaltungsgericht Leipzig urteilte im Juli 2011, die Untersagungsverfügung der WSD sei berechtigt gewesen. Doch die Frage, ob die Greenpeace-Aktivist: innen Fischereischiffe gefährdet und gegen das Hohe-See-Einbringungsgesetz verstoßen haben, klärte es nicht und verwies die Angelegenheit zurück nach Schleswig. Das Ergebnis steht aus.
Auch OAM Deme-Mineralien verklagte Greenpeace, forderte sogar Schadenersatz. Im Februar 2010 räumte das Landgericht Hamburg der Firma zwar grundsätzlich das Recht ein, Schadenersatz zu fordern. Doch auch hier befindet sich das Verfahren in der Schwebe. Ein konkreter Schaden konnte nicht beziffert werden – wie auch? Dem Unternehmen ist bislang keiner entstanden. Einige Greenpeace-Steine liegen in einem Gebiet namens Weiße Bank. Hier hatte OAM Deme-Mineralien Sand und Kies abgebaut, doch die Konzession ist abgelaufen. Aktuell fördert das Unternehmen ungestört in einer anderen Region des Sylter Außenriffs.
Greenpeace-Steine bewachsen und bewohnt
Unterdessen zeigen die Greenpeace-Steine die erwünschte Wirkung: Schleppnetz-Fischende meiden die steinigen Gebiete, mittlerweile sind die Findlinge auch als Hindernisse in den Seekarten eingezeichnet. Und Tauchexpeditionen von Greenpeace zeigen, dass die Natursteine nicht nur Leben retten, sondern auch neues Leben fördern und das natürliche Riff vor Sylt erweitern. Seenelken, Seesterne und Seescheiden, Muscheln, Moostiere, Krebse und zahlreiche Fischarten haben die Findlinge zu ihrer Heimat erkoren. Im Rahmen eines Langzeitmonitorings lässt Greenpeace einmal im Jahr das Leben an den Steinen fotografieren, dokumentieren und von unabhängigen Gutachtern bewerten.
Kompromiss-Vorschläge der Bundesregierung
Im Juni 2011 stellte die Bundesregierung Vorschläge für Fischereibeschränkungen in den Natura 2000-Gebieten vor. Über zwei Jahre hatte eine Wissenschaftler: innengruppe im Auftrag des Umwelt- und Landwirtschaftsministeriums an den Vorschlägen gearbeitet – ohne sich auf ein gemeinsames Papier einigen zu können. Laut einem Vorschlag soll die zerstörerische Grundschleppnetzfischerei im Schutzgebiet nur teilweise verboten werden. Außerdem wurde die Idee geäußert, Stellnetze mit so genannten Pingern auszurüsten. Pinger verursachen Lärm, sie sollen die Schweinswale von den Netzen wegtreiben. Wissenschaftler: innen bezweifeln jedoch ihre Wirksamkeit. Zudem wäre es widersinnig, die Meeressäuger aus einem Gebiet zu vertreiben, das ihnen Schutz bieten soll. Die vorgeschlagenen Maßnahmen sind nicht nur ungenügend, sie verstoßen auch gegen europäisches und deutsches Naturschutzrecht. Das bestätigt eine von Greenpeace vorgelegte unabhängige Rechtsexpertise.
Im August 2011 versenkten Greenpeace-Aktivist: innen erneut Felsbrocken am Sylter Außenriff, für echten Meeresschutz – und um die Politik aufzufordern, endlich notwendige Schutzmaßnahmen zu ergreifen. Die EU hat festgelegt: Spätestens sieben Jahre nach offizieller Bestätigung eines Natura 2000-Gebietes müssen wirksame Maßnahmen wie zum Beispiel strenge Fischereibeschränkungen umgesetzt sein. Das Sylter Außenriff wurde im Jahr 2006 bestätigt – doch die Fortschritte sind bislang enttäuschend.
(Autorin: Nicoline Haas)