“Vegane Ernährung ist weder ungesund noch kompliziert”
- Im Gespräch
Der Trend setzt sich fort: Auch im Jahr 2023 ist der Pro-Kopf-Verzehr von Fleisch in Deutschland zurückgegangen – auf durchschnittlich 51,6 Kilogramm im Jahr. Immer mehr Menschen stellen ihre Ernährung um – und haben Fragen. Droht zum Beispiel ein Nährstoffmangel, wenn ich mich vegan ernähre? Greenpeace hat einen Ernährungswissenschaftler um Antworten gebeten.
Greenpeace: Viele Leute können sich inzwischen mit vegetarischer Ernährung anfreunden. Aber bei veganer Ernährung verdrehen immer noch viele die Augen. Die gängigen Vorurteile: zu kompliziert und ungesund.
Bruno Henrique de Negreiros Costa: Eine Sache gleich mal vorweg: Vegane Ernährung ist weder ungesund noch kompliziert.
Greenpeace: Aber …
De Negreiros Costa: … wir sollten beim Thema Essen nicht so dogmatisch sein. Egal ob Mischkostler, Flexitarier, Vegetarier oder Veganer, alle Essensformen sind auch immer eng mit Kultur und Ethik verbunden. Jeder Mensch entscheidet für sich, wie und was er isst, und wir müssen das respektieren.
Greenpeace: Wie meinen Sie das?
De Negreiros Costa: Ich ernähre mich zum Beispiel seit meinem 18. Lebensjahr vegetarisch und lebe seit etwa zehn Jahren praktisch vegan, genauer gesagt, ich folge einer pflanzenbasierten Ernährung. Wenn ich jedoch zu Hause bin und mein Vater mit einem Käse aus der Region kommt, den ich als Kind gegessen habe, kann ich nicht einfach sagen, dass ich ihn nicht esse, weil ich jetzt „vegan“ bin. Das ist für mich mit vielen Emotionen und Erinnerungen verbunden. Das ist eine persönliche Entscheidung von mir.
Greenpeace: Was würden Sie denn empfehlen?
De Negreiros Costa: Als Ernährungswissenschaftler erforsche ich alle Ernährungsformen. In den Industrienationen beobachten wir bereits einen hohen Anteil von Menschen mit chronischen Krankheiten wie Adipositas, Diabetes Typ2 und Bluthochdruck, die eng mit der Industrialisierung des Essens verbunden sind. Natürlich spielt auch der übrige Lebensstil eine Rolle, ob jemand viel Alkohol trinkt, raucht oder keinen Sport treibt. Dennoch ist die Ernährung ein wesentlicher Faktor.
Greenpeace: Wäre es dann nicht doch besser, wir ernähren uns alle vegan? Oder zumindest vegetarisch?
De Negreiros Costa: Die aktuelle Forschung zeigt, dass eine pflanzenbasierte Ernährung die gesündeste ist, wie aus der NHANES-Studie hervorgeht. Eine pflanzenbasierte Ernährung muss nicht unbedingt vegan sein. Menschen, die hauptsächlich Obst, Getreide, Gemüse, Hülsenfrüchte und Nüsse essen, folgen bereits einem groben Beispiel für eine pflanzenbasierte Ernährung. Die Frage, ob zusätzliche Nahrungsergänzungsmittel erforderlich sind, wird von vielen Wissenschaftler:innen diskutiert.
Die Wahrscheinlichkeit, Diabetes Typ 2 oder Bluthochdruck zu entwickeln, ist für Menschen, die sich so ernähren, deutlich geringer.
Es sollte jedoch klar sein, dass Menschen, die sich rein vegan ernähren, bestimmte Nahrungsergänzungsmittel benötigen, wie zum Beispiel Vitamin B12. Neue Forschungsergebnisse zeigen auch, dass kritische Nährstoffe, insbesondere in sensiblen Lebensphasen wie Schwangerschaft, Stillzeit, Säuglings-, Kindes- und Jugendalter, besonders beachtet werden sollten. Dies gilt nicht nur für Veganer, sondern auch für Menschen, die sich einseitig und hauptsächlich durch verarbeitete Lebensmittel ernähren.
Greenpeace: Worauf muss ich bei einer rein pflanzenbasierten Ernährung besonders achten?
De Negreiros Costa: Es gibt so genannte kritische Nährstoffe, auf die man achten muss. Das gilt allerdings für jede Ernährung. Wer glaubt, man isst Fleisch und kann damit alles abdecken, täuscht sich.
Greenpeace: Kritische Nährstoffe, jetzt klingt es aber doch ein bisschen kompliziert.
De Negreiros Costa: Ist es aber nicht unbedingt. Ein Beispiel: Veganer:innen sollten darauf achten, ausreichend Kalzium zu sich zu nehmen. Das kann recht einfach sein. Man kann Kalzium beispielsweise über Mineralwasser aufnehmen. Mineralwasser mit einem Kalziumgehalt von mehr als 150 mg/l und einem Magnesiumgehalt von mehr als 50 mg/l gelten als kalzium- bzw. magnesiumreiche Mineralwasser. Der tägliche Kalziumbedarf variiert je nach Alter, liegt jedoch im Bereich von 1000 bis 1200 Milligramm. Darüber hinaus sind Brokkoli, Grünkohl und Pak Choi gute Quellen für Kalzium. Wer dann noch ein Müsli mit einer Milchalternative mit Kalzium konsumiert, erreicht diesen Bedarf mühelos.
Greenpeace: Das ist aber nicht alles, oder?
De Negreiros Costa: Nein, es geht neben Kalzium noch um Proteine, Vitamin B12, Vitamin D, Eisen, Omega-3-Fettsäuren, Zink, Jod und Selen.
Greenpeace: Das hört sich erst einmal viel an. Wie kann ich eine Versorgung mit diesen Nährstoffen sicherstellen?
De Negreiros Costa: Für jemanden, der sich noch nie mit Nährwerten beschäftigt hat, klingt das erst einmal kompliziert. Die meisten Nährstoffe können jedoch einfach über die Nahrung aufgenommen werden. Eine gute Proteinquelle findet sich in Getreide und Hülsenfrüchten, Zink steckt in Vollkorngetreide, Selen in Paranüssen, Jod in jodiertem Salz.
Manches kann man auf anderem Weg zu sich nehmen. Omega 3 zum Beispiel in Form von Algenöl. B12 als Kapsel oder Tropfen. Grundsätzlich gilt: Am Anfang muss man sich umstellen und Gedanken machen, aber dann wird das schnell zur Routine. Wer vegan leben will, kann sich aber auch von einem oder einer Ernährungswissenschaftler:in beraten lassen. Es gibt zwar viele Informationen im Internet, aber leider auch viele falsche.
Vegane Ernährung für Kinder sinnvoll?
Greenpeace: Unsere Kinder wachsen mit einem völlig anderen Verhältnis zur Ernährung auf. Sie wollen sich manchmal schon in jungen Jahren gerne vegan ernähren. Kann ich das erlauben?
De Negreiros Costa: Meiner Meinung nach kann man ein Kind vegan ernähren, es ist nur auch hier wichtig, auf die kritischen Nährstoffe zu achten.
Greenpeace: Das ist ja die größte Angst bei den Eltern. Dass ihre Kinder irgendwelche Mangelerscheinungen haben. Vor allem, wenn sie noch im Wachstum sind.
De Negreiros Costa: Markus Keller, der Gründer der Forschung über pflanzenbasierte Ernährung, führte eine Studie mit Kindern und Jugendlichen durch, die sich durch Mischkost, vegetarisch oder vegan ernährten. Bezüglich des Wachstums gab es grob gesagt keine Unterschiede.
Greenpeace: Die meisten Kinder essen aber mindestens einmal am Tag auswärts. Und die öffentliche Verpflegung ist bisher leider nicht dafür bekannt, besonders ausgewogen und pflanzenbasiert zu sein.
De Negreiros Costa: Das stimmt, in der öffentlichen Verpflegung gibt es oft Nudeln mit roter Soße oder Nudeln mit weißer Soße. Es wäre gut, wenn sich Kinder in der Schule mehr mit Ernährungsfragen beschäftigen würden. Und wenn in jeder Schulküche ein Ernährungsexperte arbeiten würde. In Brasilien ist es Pflicht in den Schulen und Krankenhäusern.
Greenpeace: Bei uns muss also die Familie diese Aufgabe übernehmen?
De Negreiros Costa: Natürlich ist es nicht sonderlich förderlich für eine gesunde Ernährung, wenn die Eltern nie Obst und Gemüse essen. Man muss schon verschiedene Sachen im Kühlschrank haben, damit Kinder überhaupt auf die Idee kommen, verschiedene Dinge auszuprobieren.
Statt einem Glas Milch kann ich einem Kind auch einen Shake mit Banane und Nüssen machen und nur 40 Milliliter Milch oder einer pflanzlichen Alternative. Dann ist das was komplett anderes. Ich bin kein Gegner von Milch, aber man muss auch keine Milch trinken.
Greenpeace: Aber viele Leute glauben immer noch, dass ihnen dann etwas fehlt.
De Negreiros Costa: Wichtig ist, dass sich die Industrie mitentwickelt. Milch enthält zum Beispiel Kalzium und Proteine. Eine Milchalternative müsste das also auch beinhalten. Es gibt aber immer noch welche, die beispielsweise Salz, Wasser und acht Prozent Hafer enthalten. Das ist dann einfach ein sehr teures Wasser. Und ein Fleischersatz, der zum Beispiel kein Eiweiß- oder Eisenlieferant ist, der bringt auch nichts.
Greenpeace: Es gibt ja zu fast jedem tierischen Produkt inzwischen eine vegane Entsprechung. Aber ist es gesund, sich ausschließlich davon zu ernähren?
De Negreiros Costa: Markus Keller hat viele vegane Produkte untersucht und festgestellt, dass sich das Angebot in eine gute Richtung entwickelt. Die meisten haben nur noch wenig Konservierungsstoffe. Und es gab lang nicht mehr so viele, die beispielsweise zu viel Salz haben. Aber ich würde mich nicht ausschließlich von solchen Produkten ernähren.
Greenpeace: Warum?
De Negreiros Costa: Es ist immer besser, möglichst viele unverarbeitete Produkte zu essen. Wenn ich nur weißen Reis und eine Käsealternative ohne Eiweiß esse, dann kann ich genauso unterernährt sein, wie jemand, der nur verarbeitete Wurst und kein Gemüse isst. Es gibt gesunde Ernährung und ungesunde Ernährung, das gilt für alle Formen. Je bunter man isst, desto besser isst man.
Greenpeace: Auch Leistungssportler:innen ernähren sich mittlerweile vegan. Kann sich jeder Mensch vegan ernähren?
De Negreiros Costa: Auch Leistungssportler:innen können sich vegan ernähren. Alles, was wir bereits besprochen haben, gilt auch für Leistungssportler:innen. Es kann jedoch ratsam sein, sich von einem oder einer Ernährungswissenschaftler:in beraten zu lassen, insbesondere wenn die sportlichen Ambitionen hoch sind. Und nein, es ist nicht für alle Menschen die beste Lösung. Wenn ich zum Beispiel in einem Land lebe, in dem ich nicht leicht Vitamin B12 bekomme, sollte ich mich lieber nicht vegan ernähren. Aber hier ist das kein Problem.