Die Bio-Rocker
- Ein Artikel von Inga Rahmsdorf
- Im Gespräch
Landwirt Björn Scherhorn wollte schon aufgeben. Doch dann hat er neu angefangen. Seitdem geht es allen besser: den Kühen, dem Boden, der Umwelt und ihm und seiner Familie.
Auf den saftigen Wiesen weiden Kühe, zwischen ihnen liegen Kälber im Gras, am Himmel taucht ein Vogel auf. „Der Rotmilan,“ sagt Björn Scherhorn, „der ist wieder neu hier in der Gegend.“ Eine Kuh nähert sich, hebt ihren Schwanz und lässt einen anständigen Fladen auf die Weide pladdern. „Das ist Elypse“, stellt Scherhorn sie vor. Manchmal verwechselt der Milchbauer noch ihre Namen. Bei 70 Kühen kann das schon mal passieren, „darf es aber eigentlich nicht“, sagt der 42-Jährige und lacht.
Björn Scherhorn ist Bauer, in wievielter Generation, weiß er nicht genau. Den Hof Scherhorn in Niedersachsen gibt es seit über 700 Jahren. Seine Vorfahren haben den Boden urbar gemacht, sie haben Tiere gehalten, Kühe gemolken, Getreide und Früchte angebaut. Für Scherhorn war schon als Kind klar, dass er den Hof von seinen Eltern übernehmen würde. „Ich bin Bauer von ganzem Herzen“, sagt er. Trotzdem hätte er einmal fast alles hingeschmissen.
Die Schuldenlast war zu groß, die Milchpreise wieder einmal so niedrig, dass sie bei weitem nicht die Ausgaben deckten. Der Boden, der seine Familie jahrhundertelang ernährt hatte, wurde von Jahr zu Jahr ausgelaugter, der Humusanteil immer geringer. Scherhorn bearbeitete die Ackerflächen mit Kunstdünger, baute Monokulturen an und pflügte das Land mit schweren Maschinen, um die Erträge zu erhöhen, die er dann an seine Kühe im Stall verfütterte, um wiederum die Milchleistung zu steigern. „Und dabei habe ich zugesehen, wie es dem Boden und den Tieren immer schlechter ging“, erinnert er sich.
Der junge Landwirt fühlte sich ausgeliefert, ohnmächtig, nur noch als kleines Rad in einem globalen Agrargetriebe. Und er wusste, wenn er so weiter machen würde, hätte sein Hof keine Überlebenschance. Wie so viele andere landwirtschaftliche Betriebe in den vergangenen Jahren. Allein zwischen 2010 und 2020 schlossen nach Angaben des Statistischen Bundesamtes 40 Prozent aller Milchbauern in Deutschland ihre Scheunentore für immer, während die verbliebenen Höfe immer größer wurden. Auch Scherhorn hatte gelernt: Wer im globalen Wettbewerb bestehen will, muss immer mehr investieren, die Produktivität erhöhen und wachsen – oder weichen.
„Vielleicht ist es besser, wenn du die Flächen verpachtest, dann kannst du wenigstens davon leben“, riet ihm sein Vater. Sieben Jahre ist das her. „Ich war ganz unten“, sagt Scherhorn, „wusste nicht mehr weiter“. Doch die Kühe verkaufen und zusehen, wie andere auf seinem Land Mais für Biogasanlagen und Getreide für Tierfutter anbauen? Aufgeben? Nach mehr als 700 Jahren. Nein, das hätte Scherhorn nicht geschafft.
Anstatt aufzugeben, beschloss er schließlich, neu anzufangen. Nicht mehr auf das zu hören, was er in der Berufsschule gelernt hatte, was Landwirtschafts- und Finanzberater, Politik und Agrarindustrie ihm immer geraten hatten. Er beschloss, den ganzen Hof umzukrempeln und auf Bio umzustellen. Sich wieder darauf zu besinnen, was seine Vorfahren jahrhundertelang richtig gemacht hatten – bis der Strukturwandel in der Landwirtschaft einsetzte, der maximale Effizienz versprach.
Der Hof Scherhorn liegt im Nordwesten Deutschlands, im Landkreis Osnabrück an der Grenze zum Emsland. Die Region mit den Sandböden ist geprägt von riesigen Schweine- und Hühnermastanlagen, von intensiver Landwirtschaft und Agrarindustrien. Bio-Höfe sind hier die Ausnahme. Eine schmale Straße führt durch Wiesen hindurch zu dem alten Bauernhaus, einem Fachwerkhaus von 1789, in dem Björn mit seiner Frau Johanna Scherhorn und ihren vier Kindern lebt. Jahrhundertealte Eichen umsäumen die Hofstelle, nicht weit entfernt davon drehen sich riesige Windräder. Über den Scheunentoren stehen die Namen seiner Vorfahren und Sprüche wie „Gott segne Ackerbau und Viehzucht“.
Es war keine einfache Entscheidung, den konventionellen Betrieb auf einen Bio-Hof umzustellen. „Ich war Teil des Systems“, sagt Scherhorn. Besonders in den Jahren der Umstellung war es finanziell schwierig, er ist dankbar, dass seine Eltern ihn dabei unterstützt haben. Die anderen Landwirte in der Region schüttelten damals den Kopf. Die Kühe nicht mit Getreide füttern, sondern sie nur Gras von der Weide fressen lassen? Da fällt doch die Milchleistung ab, sagten sie. Und die Kälber bei ihren Müttern trinken lassen? Das lässt sich doch überhaupt nicht finanzieren! Sie haben Scherhorn als naiven Idealisten belächelt. Ihm vorgeworfen, dass er mit seinem Grasland und seinen Kühen Flächen belegen würde, die man doch so viel effizienter nützen könnte.
Scherhorn hat sich davon nicht beirren lassen. Er hat das Hochleistungsfutter verbannt und seine Kühe zusammen mit ihren Kälbern auf die Weiden gelassen. „Wir haben heute einen gesamtheitlichen Ansatz“, sagt er. „Bei uns gehört nicht nur die Milch dazu, sondern auch das Fleisch und die Beweidung vom Grasland.“ Scherhorn trägt Jeans, ein schwarzes T-Shirt mit der Aufschrift „Bio rockt“ und auf dem Kopf einen alten Lederhut mit breiter Krempe. Im rechten Ohr klemmt ein Headset für sein Handy. Er klopft der Kuh Elypse auf den Hals. „Das war damals nicht Elypse, sondern eine Produktionseinheit. Und wie ich Elypse gut versorgen kann, das habe ich in meiner landwirtschaftlichen Ausbildung nicht gelernt.“
In der Berufsschule ging es auch nicht darum, wie der Bauer sein Land bewirtschaften muss, damit der Boden langfristig gesund bleibt, gut Wasser aufnehmen und speichern kann. Scherhorn hat dort erfahren, wie er die Produktivität immer weiter steigern, wie er noch mehr Weizen aus seinem Boden und noch mehr Milch aus seinen Kühen herausholen kann, welches Kraftfutter die Tiere in Turbokühe verwandelt und welche Zusatzstoffe sie benötigen, wenn die Milchleistung nicht optimal ist. Er hat den Hof geführt, wie es auch seinem Vater schon geraten worden war: Immer mehr Milch, immer billiger produzieren. In Höchstzeiten waren das fast 12.000 Liter pro Kuh im Jahr.
Entwicklung der Milchleistung
„Ich kam mir damals total modern vor“, sagt er. Doch trotz Hightech und Optimierung ging es immer weiter abwärts. Im Jahr 2015 schaffte die EU die Milchquote ab, die Preise fielen so tief, dass Landwirte von den Molkereien zeitweise kaum mehr als 20 Cent für einen Liter Milch erhielten. Scherhorn war überarbeitet, ausgebrannt und stand vor dem finanziellen Ruin. „Wir hatten den Bezug zu unserem Boden verloren“, sagt er. „Unsere Hochleistungs-Landwirtschaft ging auf Kosten unseres Hofes, des Bodens, der Tiere, der Umwelt und der Zukunft unserer Kinder. Das hier“, sagt er und zeigt dabei auf die saftigen Wiesen, die ihn umgeben, „das war damals alles Ackerland. Wir haben hier Getreide für Viehfutter angebaut. Jedes Jahr Weizen. Damit habe ich mir meinen Boden kaputt gemacht.“
Thore und Alma, zwei seiner Kinder, wuseln barfuß um ihren Vater herum und ziehen ihm das Taschenmesser aus der Jeanstasche. Die Kinder hocken sich an die Uferböschung eines Grabens und schneiden Grashalme ab. „Futter für die Kühe“, erklärt die dreijährige Alma stolz. „Wir haben in der Landwirtschaft in den vergangenen Jahrzehnten ein völlig irres System entwickelt, das auf Produktionssteigerung ausgerichtet ist, das aber all die tatsächlichen Kosten für Menschen, Tiere und Umwelt nicht mit einberechnet und so viel zerstört.“ Er macht eine kurze Pause und fügt hinzu: „Dabei ist doch eigentlich alles so einfach.“
Heute streifen seine 70 Kühe gemeinsam mit ihren Kälbern durch das Gras. Mindestens 260 Tage und Nächte im Jahr verbringen die Tiere draußen auf 50 Hektar Weideland. Sie suchen sich ihr Fressen, nähren ihre Kälber selbst und liefern gleichzeitig noch Milch und Fleisch für die Menschen. Scherhorn muss kein Kraftfutter zukaufen, die Kälber nicht mit Ersatzmilch füttern, die Tiere sind weniger krankheitsanfällig und leben länger. In den drei Wintermonaten im Stall bekommen sie Heu, Silage und Getreideschrot aus eigenem Anbau.
Der Dung der Kühe bleibt direkt auf den Feldern und liefert hochwertige Nährstoffe. Die grünen Weiden sind nicht nur Nahrungsquelle, sondern die Pflanzen betreiben auch Photosynthese. Der Boden speichert Wasser, ist Lebensraum für Artenvielfalt und trägt zur Regulation des Klimas bei. Er dient als gewaltiger Speicher von Kohlenstoff. „Da liegt ein gigantisches Potential in der bäuerlichen Landwirtschaft, über das überhaupt nicht geredet wird“, sagt Scherhorn. Das möchte er ändern.
„Kühe sind Lauftiere und Grasfresser. Es ist doch völlig absurd, dass wir sie ganzjährig im Stall stehen lassen und mit Getreide füttern. Mit Sojaschrot, das in Südamerika angebaut wird. Auf Flächen, für die Regenwälder gerodet werden. Und die mit Pestiziden behandelt werden, die in Europa längst nicht mehr zugelassen sind. Dann wird das Kraftfutter noch um die halbe Welt verschifft. Und nur weil wir solche Mengen an Futtermittel importieren, können wir in Deutschland überhaupt so viele Tiere halten. Deswegen gibt es zu viel Gülle, die vielerorts bereits zu extrem hohen Nitratwerten im Grundwasser geführt hat. Es läuft etwas ganz grundsätzlich falsch.“
Scherhorn weiß, wie schwierig es ist, aus diesem System auszubrechen und wie ungerecht es ist, wenn die Landwirt:innen immer als Sündenböcke herhalten müssen. Aber er hat auch bewiesen, dass es anders geht. Vorleben statt nachgeben. Das ist das Motto von Björn und Johanna Scherhorn. Auf ihren Ackerflächen bauen sie heute Mischkulturen an, kombinieren Hafer, Sommerweizen, Ackerbohne, Leinsamen und andere Pflanzen. Die Artenvielfalt ist nicht nur schön und erhöht die Biomasse, der Boden lagert auch schneller organischen Kohlenstoff ein. Die Scherhorns stauen Wasser an, um Flächen wieder zu vernässen und sie halten Schafe, Hühner und Kaninchen als Resteverwerter. Die Tiere trinken das Regenwasser, das auf den Flächen aufgefangen wird.
Über den Hofplatz fährt Sohn Haldor auf einem Spielzeugtrecker. In einem angrenzenden Stall ist der Melkstand, in den sie morgens und abends die Kühe von der Weide führen. Auf den Wiesen dahinter haben die Scherhorns angefangen, wieder Bäume und Sträucher zu pflanzen. So wie früher, nach dem uralten Prinzip des Agroforstes. Obst- und Nussbäume bieten nicht nur Menschen, sondern auch Insekten und anderen Tieren Nahrung, auf den Weiden und Feldern spenden sie Schatten, schützen den Boden vor Erosionen, verbessern die Fähigkeit, Wasser zu speichern und sind gute Kohlenstoffspeicher.
Es steckt viel Arbeit in ihrem Bio-Betrieb, Johanna und Björn Scherhorn mussten umbauen, neu erfinden, umdenken und investieren, das Geld war oft knapp, sie machen fast alles allein, nur der Schwiegervater hilft auf dem Hof aus. „Aber der Betrieb läuft heute gut“, sagt Björn Scherhorn, „und wir arbeiten selbstbestimmter.“ Der ausgelaugte Boden erholt sich von Jahr zu Jahr. Heute brüten wieder sehr viele Schwalben in den Scheunen, der Rotmilan, die Nachtigall, verschiedene Eulenarten und der Turmfalke sind zurückkommen, Tiere, die seit seiner Kindheit immer mehr verschwanden, weil sie auf den großen Ackerflächen ohne Feldstreifen, ohne Hecken, Büschen und Bäumen keinen Unterschlupf und keine Nahrung mehr fanden.
Die Kühe geben heute zwar deutlich weniger Milch als früher die Turbo-Kühe, etwa 6.000 Liter pro Tier und Jahr. Dafür kann Scherhorn sie als Bio-Weidemilch verkaufen, erhält mehr Geld als für konventionelle Milch und spart die Ausgaben für Kraftfutter, Düngemittel und den Treibstoff für das Pflügen. Das, was die Molkereien für Bio-Rohmilch zahlen, deckt allerdings auch nicht oder nur knapp die tatsächlichen Ausgaben. Wichtigste Einnahmequelle ist daher das Fleisch der Tiere und der Käse, die er regional verarbeiten lässt und direkt vermarktet. Den Anteil der Direktvermarktung würde Scherhorn gern noch vergrößern, aber das ist in der abgelegenen Region nicht einfach. „Wir Bauern müssen noch viel mehr darüber reden, was wir machen“, sagt er. Deswegen postet er auch Fotos von seinem Hof und den Tieren, stellt Videos ins Internet, in denen er von der Arbeit erzählt.
Den Scherhorns wurde schon oft vorgeworfen, dass ihre Landwirtschaft doch rückschrittlich sei. „Dabei ist alles, was wir machen, so was von zukunftsgewandt“, sagt der Bauer. „Denn nur mit einer bäuerlichen naturverbundenen Kreislaufwirtschaft können wir viele Probleme unserer Zeit lösen.“ Johanna und Björn Scherhorn wollen das Land wieder so schützen, dass sie ihren Kindern einmal einen gesunden Boden und einen gut laufenden Betrieb vermachen können. Neben der Hofeinfahrt haben sie an einem langen Mast eine große Fahne gehisst. „Bio rockt“ steht dort in weißer Farbe auf schwarzem Grund.