Interview mit Karsten Smid, Klima-Experte von Greenpeace, zu IPCC-Sonderbericht Meere und Meeresspiegelanstieg
- Nachricht
Der Schock über das völlig unzureichende Klimapaket der Regierung ist noch nicht verdaut, da wirft schon die nächste Hiobsbotschaft ihre Schatten voraus: Nächsten Mittwoch werden die Klimawissenschaftler der UN ihren Sonderbericht zum Zustand der Meere in Zeiten des Klimawandels veröffentlichen. Und was bis jetzt davon bekannt geworden ist, sieht nicht gut aus: Die Experten rechnen wohl mit einem schnelleren und stärkeren Anstieg des Meeresspiegels als bisher erwartet.
Um sichtbar zu machen, was das bedeuten kann, haben Greenpeace-Aktivsten heute in Hamburgs historischer Speicherstadt mit einer Lichtprojektion die zukünftige Wasserlinie von fast acht Metern an die Häuser geworfen. Zu dem, was da auf uns zukommt, ein Interview mit Klimaexperten Karsten Smid:
Greenpeace: Noch ist der Bericht nicht veröffentlicht. Was ist bislang bekannt?
Karsten Smid: Auch wenn der IPCC-Sonderbericht offiziell erst am Mittwoch vorgestellt wird, liegt er den Fachbehörden wie dem Bundesamt für Seeschifffahrt (BSH) seit Anfang des Jahres zur Bewertung vor. Und ihre nicht für die Öffentlichkeit bestimmte Bewertung ist besorgniserregend.
Was heißt das konkret?
Ich gehe davon aus, dass die UN-Wissenschaftler wieder die Zahlen für den Meeresspiegelanstieg nach oben korrigieren werden. Das heißt, dass der Anstieg der Meere schneller und schlimmer kommt, als bisher erwartet.
In einer internen Bewertung des Bundesamts für Seeschifffahrt heißt es zum Beispiel, dass die Nordseeregion als Gebiet mit dem höchsten Zuwachs der Extremwasserstände in Europa heraussticht. Wörtlich steht da „Bis zum Ende des Jahrhunderts kann sich das Risiko eines Hochwasserereignisses mit 100-jähriger Wiederkehrzeit zu einmal jährlich für etwa fünf Millionen Europäer erhöhen.“
Statt einmal alle hundert Jahre rechnen die Experten also künftig mit folgenschweren Hochwassern einmal im Jahr.
Was bedeutet das zum Beispiel für Hamburg?
Noch schlimmere Sturmfluten als bisher. Extreme Sturmfluten führen enorm zerstörerische Energie mit sich. Sie sind zwar selten, aber wenn bestimmte Faktoren wie ein starkes anhaltendes Windfeld, eine ungünstige Windrichtung sowie ein Gezeitenwechsel zusammenkommen, laufen die Wassermassen zu gewaltigen Höhen auf. Bei auflandigem Sturm und damit verbundenem Windschub an der Meeresoberfläche wird es an der Küste dann richtig gefährlich.
Wegen sich durch den Klimawandel veränderten Windverhältnissen rechnen Experten damit, dass Sturmflutwasserstände an der Nordseeküste bis Ende des Jahrhunderts um bis zu 30 Zentimeter höher auflaufen können. Dazu kommt im schlimmsten Fall ein genereller Anstieg des Meeresspiegels um bis zu 110 Zentimeter wegen der größeren Ausdehnung, weil die Meere wärmer werden, und wegen der schmelzenden Gletscher. Wenn man das alles zusammenzählt, kann das dazu führen, dass zum Beispiel in Hamburg die bisherige Rekordmarke der Sturmflut von 1976 noch mal um 1,50 Meter überschritten wird.
Halten die Deiche denn solch einer extremen Sturmflut stand?
Die Höhe der Deiche muss auf den schlimmsten Fall ausgerichtet sein – sonst können die Deiche ihren Zweck nicht erfüllen. Küstenschutz und Katastrophenschutz müssen sich auf andere Szenarien einstellen. Greenpeace warnt davor, sich in falscher Sicherheit zu wiegen. Bei Dingen die bisher noch nicht geschehen sind, gehen wir Menschen gerne davon aus, dass sie auch in Zukunft nicht eintreten. Deshalb sind wir blind für extrem seltene Ereignisse. Zumindest blenden wir sie aus.
Extreme Sturmfluten basieren auf Ereignissen, die sich gegenseitig hochschaukeln. Für unmöglich gehaltene Zufälle verstärken sich gegenseitig. Das alles passiert schon „von Natur aus“. Mit dem beschleunigten Meeresspiegelanstieg kommt eine zusätzliche Komponente dazu, die alles bisher Dagewesene auf den Kopf stellt.
Ist das nicht Panikmache? Die Deiche haben doch auch bei der Sturmflut 1976 gehalten?
Das stimmt nicht ganz. In Hamburg hielten die 1976 Deiche, weil sie nach der verheerenden Flut von 1962 verstärkt worden waren. Aber vor den Toren Hamburgs in Schleswig-Holstein sind sie damals gebrochen und haben große Flächen der Haseldorfer Marsch überflutet. Die gebrochenen Deiche dort haben dann zu einer Entlastung in Hamburg geführt.
Um auf den Klimawandel zu reagieren, haben sich die Küstenländer auf eine Deicherhöhung um 50 Zentimetern bis zum Ende des Jahrhunderts verständigt. Aber das wird kaum reichen.
Nehmen die Behörden denn die Ergebnisse des IPCC ernst?
Bereits im Mai 2017 warnte das zuständige Bundesamt für Seeschifffahrt (BSH) in einem internen Schreiben, dass der Meeresspiegel in den kommenden Jahrzehnten deutlich stärker ansteigen könnte als gedacht. Jetzt mit dem neuen IPCC-Sonderbericht Meere bin ich mir sicher: Intern schrillen auch bei den Behörden die Alarmglocken. Auch wenn daher bis jetzt noch niemand spricht.
Weitere Unterlagen und Einschätzungen zu dem IPCC-Sonderbericht der Behörden finden Sie bei der Stiftung Erneuerbare Freiheit, die Greenpeace die interne Einschätzung der Behörden zum IPCC-Sonderbericht zur Verfügung gestellt haben.