Die verleugneten Opfer
- Nachricht
Archiviert | Inhalt wird nicht mehr aktualisiert
Der Super-Gau von Tschornobyl hat Millionen Leben zerstört. Durch Tod, Siechtum, Krankheiten unterschiedlichster Art, Missbildungen. Durch den Verlust geliebter Menschen und die Angst vor dem, was noch kommt. Viele der Tschornobyl-Opfer sind noch nicht einmal geboren. Seit Jahrzehnten wird das Ausmaß der Katastrophe vertuscht und heruntergespielt. Eine Studie von Greenpeace widerlegt die Verharmlosungen.
Der Name Tschornobyl ist zum Inbegriff des atomaren Schreckens geworden. Schätzungen gehen allein für Weißrussland, die Ukraine und Russland von 200.000 Toten im Zeitraum 1990 bis 2004 aus. Doch solche Zahlen gelangen kaum in die breitere Öffentlichkeit. Es ist auffällig, wie vage die Vorstellungen vom Ausmaß des Desasters sind.
Zum tragischen Schicksal der Tschornobyl-Opfer gehört, dass es sie nicht geben dürfte. Sie passen nicht ins Konzept. Sie passten 1986 nicht ins Konzept der damaligen Weltmacht Sowjetunion, sie passen bis heute nicht ins Konzept der internationalen Atomlobby. Das ist die zweite Tragödie in ihrem Leben.
Das Leiden ist noch lange nicht vorbei
Um Licht in das Dunkel um die Opfer der Katastrophe zu bringen, hat Greenpeace mit mehr als 30 renommierten Wissenschaftler:innen zusammengearbeitet, unter anderem mit ukrainischen, weißrussischen und russischen Expert:innen.
Unter anderem werteten die Fachleute neueste Studien der Russischen Akademie der Wissenschaften aus. Sie kamen allein für die Länder Weißrussland, Ukraine und Russland auf 270.000 zusätzliche Krebserkrankungen, von denen wahrscheinlich 93.000 tödlich enden werden. Weitere Studien vermuten noch weitaus höhere Zahlen. Die Latenzzeit kann bei einer Krebserkrankung bis zu 50 Jahre betragen.
Vergleiche zwischen belasteten und unbelasteten Gebieten zeigen auch deutlich höhere Raten bei anderen Krankheiten. Die Strahlung scheint das Immun- und das Hormonsystem anzugreifen. Die betroffenen Menschen leiden häufiger als andere an Infektionen, Herz- und Gefäßkrankheiten, Bluterkrankungen, Unfruchtbarkeit und vorzeitiger biologischer Alterung. Die Zahl der Schwangerschaftskomplikationen, der Fehlgeburten und missgebildet geborenen Säuglinge ist drastisch gestiegen. Erlittene Schäden am Erbgut werden an die Kinder weitervererbt - die Folgen der Katastrophe reichen weit in kommende Generationen hinein.
Die Interessenpolitik der Atomlobby
Die IAEO legte im September 2005 eine Studie vor, derzufolge an den Folgen des Super-Gau bis dahin "nur" 58 Menschen gestorben und in Zukunft höchstens 4.000 Krebstote zu befürchten seien. Die Weltgesundheitsorganisation, auf die sich die Behörde der Atomlobby beruft, schweigt dazu. Sie ist in ihrem eigenen Bericht zwar von einer mehr als doppelt so hohen Opferzahl ausgegangen, doch auch diese Zahl ist schon nach unten "bereinigt".
"Keine:r kann sicher sagen, wie viele Menschen an den Folgen von Tschornobyl sterben werden. Dazu sind die Auswirkungen der Radioaktivität zu vielfältig und ist die Datenlage zu ungenügend. Doch wer von 4.000 Opfern spricht, leugnet die Schwere dieses Unglücks und ignoriert das Leid unzähliger Menschen", sagt Thomas Breuer, Atomexperte von Greenpeace. "Selbst die IAEO geht in ihren Schätzungen von mehr Todesopfern aus als sie öffentlich erklärt. Man muss nur das Kleingedruckte in ihrer Studie lesen."
Greenpeace wirft der IAEO vor, den bisher schlimmsten Unfall in der Geschichte der Atomkraft bewusst zu verharmlosen, um der Atomindustrie genehmere Zahlen zu verschaffen. Weltweit gibt es über 440 Atomkraftwerke. Jedes ist ein potenzielles Tschornobyl. Etwas anderes zu behaupten, kommt dem Super-Gau menschlicher Erkenntnisfähigkeit gleich. Die IAEO muss ihre Förderung der Atomkraft aufgeben und stattdessen den weltweiten Atomausstieg beaufsichtigen. Greenpeace fordert auch die Bundesregierung auf, sich für dieses Ziel einzusetzen.