Liquidatoren in Tschornobyl – Zeugen erinnern sich
- Hintergrund
"Beim nächsten Unglück werden sie wieder nach uns rufen - die Menschen, die man so leicht täuschen kann", schreibt Anton A. Wultschin 1996. "Doch nie wieder! Niemals! Niemand wird uns ein zweites Mal täuschen. Sie können uns nicht alles nehmen - die Tränen in meinen Augen, den Schmerz in meinem Herzen ... Wir sterben, und wir werden immer weniger, die Liquidatoren der Tschornobyl-Katastrophe."
1996, zehn Jahre nach der Katastrophe von Tschornobyl, veröffentlichte Greenpeace Zeugenberichte von Menschen, die an den Aufräumarbeiten auf dem verseuchten Gelände teilgenommen hatten. Jurij Silliuk und Anton A. Wultschin waren zwei von ihnen. Die Namen sind damals wie heute auf Wunsch der Betroffenen unvollständig angegeben.
Berichte von Zeitzeugen
Jurij Silliuk
Der Journalist Jurij Silliuk gehörte zu den pensionierten Soldaten, den sogenannten Partisanen, die das sowjetische Verteidigungsministerium neben den eingesetzten aktiven Soldaten für die Tschornobyl-Operationen rekrutierte:
Ich kam über die Militärregistration und ein Rekrutierungsbüro nach Tschornobyl. 1986 arbeitete ich in der Redaktion der Zeitung Komsomolez Kirgisii. Beim Militär war ich Kommandeur der Abteilung für Strahlung und chemische Aufklärung. Zusammen mit Millionen von Sowjetbürgern fühlte ich, dass Tschornobyl eine furchtbare Katastrophe war. Ich hatte die Absicht, meinen Landsleuten und dem Staat zu helfen, mit dem Unglück fertig zu werden.
Ich erinnere mich gut an die Schlangen von Freiwilligen, die genau wie ich in den Rekrutierungsbüros anstanden. Medizinische Kommissionen wählten sorgfältig die Kandidaten aus und lehnten solche mit schlechtem Gesundheitszustand ab. Nicht jeder Freiwillige hatte altruistische Motive - manche Leute wollten nur Geld verdienen und wussten, dass sie in Tschornobyl gut bezahlt werden.
Ich wurde rekrutiert. Zunächst arbeitete unsere Einheit im weißrussischen Teil von Polesje, an der Grenze zur Ukraine, um dort das Ausmaß der radioaktiven Verseuchung festzustellen. Viele von uns waren damit nicht zufrieden und schickten Briefe an unsere Militärkommandeure mit der Bitte, uns nach Tschornobyl zu versetzen. Nach etwa einem Monat zogen wir in die Zone.
Tschornobyl war wie eine Stadt an der Front. Überall waren Soldaten, doch es gab auch Zivilisten. Die Gebäude einer früheren Schule dienten als Kaserne. Von dem Tag an wurde alles anders. Morgens wurden wir in Fahrzeuge verfrachtet und fuhren nach Tschornobyl. Ich saß in der Mitte der hölzernen Bank und blickte durch ein Loch in der Plane in die Umgebung. Ich erinnere mich, wie wir das Kraftwerksgelände durchfuhren. Am Morgenhimmel stand eine große, rote Sonne.
Bald hielt unser Wagen in der Nähe des dritten Kraftwerksblocks. Wir zogen Atemmasken auf und betraten die Anlage. Unsere Aufgabe bestand darin, den Abfall auf dem Dach des dritten Reaktors zu entfernen - die Überreste des zerstörten vierten Reaktors. Wir passierten mehrere Räume und erreichten einen großen Lüftungsraum. Sofort kamen Männer mit Dosimetern herein und führten Strahlungsmessungen durch. Die Belastung war im Innern relativ niedrig, wurde jedoch in den Bereichen nahe des vierten Blockes ziemlich hoch.
Wir verbrachten lange Stunden wartend in dem Raum. Jeder war unruhig und versuchte zu erraten, was passieren würde. Zur Mittagszeit wurden wir zur Kantine innerhalb der Anlage gebracht. Sie war voll von Soldaten. Erst da bemerkten wir das hektische Tempo der Aufräumarbeiten.
Nach dem Mittagessen wurden wir in Zweiergruppen aufgeteilt. Ich ging mit der ersten Gruppe die Treppe hinauf in den obersten Stock des dritten Blocks, um dort beim Einsammeln von Abfall zu helfen - genauer gesagt von Fragmenten des vierten Reaktors. Ein Kollege und ich sollten die Schutzkleidung unserer Arbeitskollegen vorbereiten - die bleibeschichtete Schürze und andere Gegenstände. Dies dauerte etwa 15 Minuten, da es eine provisorische, behelfsmäßige Ausrüstung war.
Anschließend erhielten wir Anweisungen, was wir aufheben und wohin wir es bringen sollten. Dazu gehörten Fragmente des Gebäudes, Metallplatten, Graphitstücke vom Reaktor und Teile von Brennelementen. Diese kleinen, dunkel gefärbten Fragmente hochradioaktiven Brennstoffes, die unter dem übrigen Müll nur schwer erkennbar waren, stellten für die Arbeiter die größte Gefahr dar. Jeder, der mit seinen Gummistiefeln auf ein solches Stück getreten war, spürte am nächsten Morgen die Strahlungsverbrennung.
Vor dem Besteigen des Daches erhielt jedes Mitglied der Arbeitsgruppe zwei Dosimeter: das erste musste er in die Stiefel stecken, das zweite in eine Brusttasche. Die Aufräumarbeiten auf dem Dach wurden über Lautsprecher geleitet.
Am ersten Tag stiegen mehrere Gruppen hinauf. Als wir wieder in der Kaserne waren, fragte ich meine Kollegen, welche Strahlendosis ihre Dosimeter auf dem Dach angezeigt hatten. Nur wenige hatten genug Zeit, auch nur einen kurzen Blick darauf zu werfen, und kurz nach Beginn der Arbeit wurden sie ihnen wieder weggenommen. Eine Person, die tatsächlich auf das Dosimeter geschaut hatte, hatte noch nie zuvor ein solches Gerät gesehen und konnte es nicht ablesen. Alles passierte in großer Eile. Ziel war es, die Kleidung so schnell wie möglich auszuziehen und an die nächste Gruppe zu übergeben.
Ich war am nächsten Morgen um zehn Uhr an der Reihe. Als ich durch das Tor ging, roch es unangenehm nach verbranntem Kabel. Als wir das Dach erreichten, fanden wir schnell unsere Arbeitswerkzeuge - ganz normale Schaufeln. Wir hoben Stücke des vierten Reaktors hoch und legten sie in einen Container, der auf dem Dach stand.
Die dringendste Aufgabe war das Aufsammeln der gefährlichsten Fragmente, die die Reaktorbrennstäbe enthielten. Es war ein seltsames Gefühl, die Schaufel mit bleibeschichteten Handschuhen zu halten, als wir versuchten, die im Dach steckenden Teile der kleinen Spaltstoffhülsen herauszuziehen.
Alles, was wir bei dem fünfminütigen Dacheinsatz tun konnten, war das Füllen einer einzigen Schaufel, um damit zum Container zu rennen. Das vorherrschende Gefühl war der Wunsch, das Programm zu erfüllen und die gefährlichen Abfälle so schnell wie möglich zu entsorgen, koste es was es wolle.
Als ich vom Dach stieg, stellte ich überrascht fest, dass ich den Kopf während der Arbeit auf dem Dach nicht ein einziges Mal gehoben hatte. Ich warf einen schnellen Blick auf das Dosimeter in meiner Brusttasche. Es zeigte 28 Röntgen pro Stunde an. Nach einer kurzen Zigarettenpause waren wir erneut auf dem Dach und wiederholten das Ganze, um noch mehr Spaltstoffhülsen zu entfernen. Am Ende der Schicht hatten alle Gruppen ihr Pensum auf dem Dach erfüllt.
Am Abend fand eine Versammlung statt, auf der der Oberst, der die Arbeiten geleitet hatte, uns seinen Dank aussprach. Er sagte, die Strahlungswerte seien rückläufig. Jemand fragte ihn, wie hoch die Strahlung gewesen war, der wir ausgesetzt waren. Er beteuerte, dass wir nicht mehr als die zulässige Dosis von 25 Röntgen pro Stunde erhalten hatten.
Das war eine glatte Lüge. Mein eigenes Dosimeter hatte 28 Röntgen nach der ersten und 39 nach der zweiten Schicht registriert. Somit lag die Gesamtdosis für zehn Minuten Arbeit bei mindestens 67 Röntgen pro Stunde. Dennoch sprachen alle offiziellen Dokumente von 25 Röntgen pro Stunde.
Neben dem Säubern des Daches nahmen wir noch an wissenschaftlichen Experimenten teil. Vor Beginn unserer Schicht kam eine Gruppe von Militärärzten zu uns und sagte, dass sie ein neues Antistrahlen-Medikament testeten. Dem ersten Soldaten in jeder Zweiergruppe wurde eine weiße Tablette verabreicht, dem zweiten eine rote. Diejenigen, die rote Tabletten nahmen, fühlten sich viel schlechter als die anderen.
Nachdem unsere Arbeit beendet war, mussten wir noch acht Tage für ärztliche Untersuchungen bleiben. Wir zahlten einen zu hohen Preis für nur zehn Tage in Tschornobyl und zehn Minuten auf dem Dach, wo die Strahlendosis Hunderte Röntgen betrug. Erst später, als wir ärztlich untersucht wurden, verstanden wir, dass wir wie weiße Mäuse für ein Experiment missbraucht worden waren. Wir hätten spezielle Schutzkleidung gebraucht statt einfacher Overalls.
Bei der Rückkehr ins normale Leben merkten wir, dass wir betrogen worden waren - nicht nur in Bezug auf die Strahlungsmenge, der wir ausgesetzt waren, sondern auch auf unseren Lohn. Fast alle Partisanen, die vorübergehend in die Armee rekrutiert wurden, sollten einen Bonus erhalten, doch alle gingen leer aus.
Anton Antonowitsch Wultschin
Anton Antonowitsch Wultschin, ein Oberstleutnant aus Lwow, war früher Kommandeur der Einheit 96631 im Militärdistrikt Vorkarpaten. Er nahm vom 17. Mai bis 20. November 1989 an der Liquidation teil und erhielt ein Zertifikat 1. Grades, Serie A, Nr. 003812. Wultschin erzählt:
Ich war einer Strahlendosis von 42,38 Röntgen ausgesetzt, doch beim Verlassen der Tschornobyl-Zone standen auf meinem Krankenblatt nur 14,98. Heute bin ich als Behinderter 2. Grades eingestuft.
Unsere Einheit war innerhalb der Sperrzone stationiert, im Wald, im Dorf Stracholesie (Region Tschornobyl). Wir arbeiteten in Pripjat, in der Nähe der vierten Reaktoreinheit in Tschornobyl, in der Gemeinde Salesie und in Slawutitsch.
Die Männer wurden von verschiedenen russischen Militärkommissariaten rekrutiert. Die meisten kamen aus den zentralasiatischen Republiken. Die Mehrzahl war zwischen 30 und 45 Jahre alt, auch ältere waren dabei. Viele waren vorbestraft, kinderlos oder hatten ein Kind.
Laut Vorschriften des sowjetischen Verteidigungsministeriums durften 30-jährige Männer, die kinderlos waren oder ein Kind hatten sowie solche über 45 nicht in der Tschornobyl-Zone oder als Liquidator arbeiten. Ich musste solche Männer zu ihren Militärkommissariaten zurückschicken. Die Militärkommissare kannten entweder die Richtlinien nicht, oder sie ignorierten sie und waren mehr an der Erfüllung der Zielvorgaben interessiert.
Die Schutzkleidung für das Personal bestand aus der normalen Militäruniform, kleinen Dosimetern und weißen Gasmasken aus Stoff. Einmal im Monat tauschten wir die Dosimeter gegen neue aus, doch sie sagten uns nicht, welcher Strahlendosis die Leute an den verschiedenen Standorten ausgesetzt gewesen waren.
Ich versuchte auf eigene Initiative, die Situation in verschiedenen Zentren außerhalb von Tschornobyl zu klären, erhielt jedoch keine klaren Angaben über die Strahlungswerte, denen ich und mein Personal ausgesetzt waren. Wir nahmen unsere Mahlzeiten in der Anlage Seleny Mis und in Tschornobyl ein. Ich glaube, dass die Ernährung nicht angemessen war. Sie gaben uns Mineralwasser, das nicht in unverstrahlten Regionen, sondern im Oblast Kyiv produziert wurde.
Nach den medizinischen Kriterien hätten einige meiner Untergebenen gar keine Erlaubnis erhalten dürfen, in der Tschornobyl-Zone zu arbeiten, doch es war vollkommen unmöglich für mich, sie über das Militärkommissariat auszuwechseln. Ich habe noch immer die Richtlinien, die vom Zentralen Medizinischen Amt des Verteidigungsministeriums herausgegeben wurden.
Ich selbst erfüllte ebenfalls alle Bedingungen, die einer Person die Arbeit als Liquidator untersagten. Doch man sagte mir, dass Befehle ausgeführt werden mussten und dass dies meine Pflicht sei. Das Ergebnis ist, dass ich heute Behinderter 2. Grades bin. Es ist nun sieben Jahre her, daß ich in Tschornobyl arbeitete, doch ich bin noch immer krank. Ich lebe praktisch in der Polyklinik.
Ich habe permanente Kopfschmerzen, besonders schlimm ist es im Sommer. Ich leide unter häufigen Schwindelanfällen und werde oft für kurze Zeit ohnmächtig. Meine Bewegungen sind unkoordiniert oder ich falle einfach um, so als ob ich einen halben Liter Wodka getrunken hätte. Meine Schilddrüse ist vergrößert, in beiden Augen habe ich grauen Star, mein Blutdruck liegt ständig bei etwa 180/120 oder darüber, ich habe Herzschmerzen, meine Bauchspeicheldrüse funktioniert nicht richtig und ich habe eine fortgeschrittene Diabetes. Die Galle wurde mir herausgenommen. Manchmal verliere ich die Kontrolle über meine Beine und ich habe akute Schmerzen in den Gelenken. Jede Bewegung verursacht mir dann starke Schmerzen.
Der Staat kümmert sich nicht um meine Behandlung oder um die meiner Liquidatoren-Kollegen. Es gibt keine ärztlichen Untersuchungen. Uns fehlen sämtliche Medikamente, die wir brauchen. Die gibt es nur in kommerziellen Apotheken. Wir bekommen sie nicht kostenlos, weil sie in den staatlichen Apotheken einfach nicht erhältlich sind. In Lwow kümmert sich niemand um die Liquidatoren der Tschornobyl-Katastrophe, weder die Bediensteten der öffentlichen Gesundheitseinrichtungen des Oblast, noch diejenigen der Militärkrankenhäuser.
In einigen staatlichen Einrichtungen, die wir um Hilfe baten, sagte man uns ganz frei heraus, dass wir ja nicht dorthin geschickt worden waren. Wir hätten eben nicht hingehen sollen, dann hätten wir jetzt auch keine Gesundheitsprobleme und müssten nicht um Hilfe bitten.
Die Rehabilitierung der Liquidatoren in den Sanatorien ist alles andere als gut. In den Militärkommissariaten von Bezirk und Oblast verweigern sie uns Sanatorien-Gutscheine. Sie sagen, dass es keine Gutscheine gibt. Die Gesetze der Ukraine ändern sich derart schnell, dass es unmöglich ist, mit ihnen Schritt zu halten.
Der Staat könnte mir von mir aus mein Auto wegnehmen im Austausch für die Gesundheit, die ich verloren habe. Diesen Tausch würde ich sofort eingehen. Von 1986 bis 1989 wurden wir gebraucht, um die Ukraine vor dem unsichtbaren Feind der Strahlung zu retten. Sie versprachen, sich für den Rest unseres Lebens um uns zu kümmern. Doch heute brauchen sie uns nicht mehr - weder die Regierung noch das Verteidigungsministerium. Sie haben alles vergessen.
Doch sie täten gut daran, das nukleare Ungeheuer in der Ukraine nicht zu vergessen. Denn wenn eine solche Katastrophe - Gott bewahre - noch einmal passiert, wird niemand den staatlichen Versprechungen glauben. Und wir werden die ersten sein, die sagen, dass man niemandem trauen kann, da unsere Gesundheit den Staat nicht interessieren wird.
Sie werden Gesetze erlassen, sie werden Versprechungen machen, doch die Bürokraten werden all dies wieder ignorieren. Sie selbst wurden niemals der Strahlung ausgesetzt; sie selbst werden niemals nur einen Finger krümmen, um dabei zu helfen, die Folgen zu mindern; auch ihre Kinder und Verwandten werden dies nicht tun.
Beim nächsten Unglück werden sie wieder nach uns rufen - die Menschen, die man so leicht täuschen kann. Doch nie wieder! Niemals! Niemand wird uns ein zweites Mal täuschen. Sie können uns nicht alles nehmen - die Tränen in meinen Augen, den Schmerz in meinem Herzen. Ich schäme mich für unser Land, unsere Ukraine. Wir sterben, und wir werden immer weniger, die Liquidatoren der Tschornobyl-Katastrophe. Ärzte können uns nicht retten. Wir werden gedemütigt und wie Bettler behandelt.