Strahlenmessungen in Tschornobyl
- Unterwegs
Der russische Angriffskrieg in der Ukraine lenkt den Blick auch auf ein europäisches Trauma: die nukleare Katastrophe von Tschornobyl* im Jahr 1986. Damals explodierte der Block 4 des Atomkraftwerks und verstrahlte rund 150.000 Quadratkilometer Land. Noch immer ist die Sperrzone um die Atomruine radioaktiv verseucht und unbewohnbar. Dessen ungeachtet hat die russische Armee im Frühjahr rund um die havarierte Anlage Schützengräben und Unterstände ausgehoben. Zeitweilig war die Stromversorgung der Atomanlage unterbrochen.
Ein Greenpeace-Team unter deutscher Leitung war in Tschornobyl unterwegs, um die Auswirkungen der militärischen Aktivitäten vor Ort abzuschätzen - und welchen potenziellen Gefahren die Menschen und die Umwelt ausgesetzt waren. Die Einschätzung der Experten vor Ort: Die Internationale Atomenergiebehörde (IAEO) verharmlost die atomaren Risiken durch die russische Invasion um die AKW-Ruine von Tschornobyl.
Bewertungen der IAEO müssen überprüft werden
Die Strahlenmessungen des Teams dokumentierten in der Region Radioaktivitätswerte, die den internationalen Grenzwert für Atommüll bis um das Vierfache überschreiten. IAEO-Direktor Rafael Mariani Grossi hatte Ende April verkündet, zwar sei erhöhte Strahlung zu verzeichnen, die Werte würden aber keine große Gefahr für die Umwelt oder die Menschen darstellen. “Der IAEO fehlt es an Objektivität. Sie schätzt die Risiken der Atomkraft nicht unabhängig ein”, sagt Thomas Breuer, Atomexperte von Greenpeace Deutschland. “Damit die Behörde glaubwürdig auf die vielfältigen Gefahren der Atomenergie reagieren kann, muss sie künftig von einer Agentur zur Verbreitung von Atomkraft zu einer Überwachungsbehörde umgebaut werden. Die Expertise und Expert:innen dazu hat sie.”
Auf ihrer viertägigen Messtour analysierte das Greenpeace-Team 19 selbst genommene Proben aus dem Areal, in dem russische Soldaten Schützengräben ausgehoben und so radioaktiv verstrahlte Erde freigelegt haben. Den ukrainischen Behörden wurden die stark kontaminierte Probe vor Ort übergeben. Darüber hinaus konnten die Umweltschützer:innen weitere Schäden durch russische Truppen mit Hilfe einer Auswertung von Satellitenbildern nachweisen. Eine Datenbank mit wichtigen Informationen zu radioaktiv belasteten Flächen der Region wurde nach ukrainischen Angaben vernichtet, ein Labor geplündert. Die wissenschaftliche Arbeit zum Umgang mit der Verstrahlung wurde um Jahrzehnte zurückgeworfen.
Die Recherche-Reise war von der ukrainischen Regierung genehmigt. “Wir wollen wissen, was vor Ort geschehen ist. Die bisherigen Angaben der IAEO sind unzureichend”, sagt Thomas Breuer, Atomexperte von Greenpeace Deutschland, vor Ort in Tschornobyl. “Mit unseren wissenschaftlichen Messungen lässt sich künftig die Sicherheit für die Menschen in der Region besser beurteilen.”
Unter der Leitung von Greenpeace Deutschland untersuchten fünf Strahlungsexperten eine verlassene russische Stellung auf radioaktive Strahlung. Ende Februar hoben russische Soldaten Schützengräben und Unterstände im “roten Wald” und in seiner Nähe aus - einer stark verstrahlten Zone westlich der Atomruine. Rund 600 Soldaten waren zu der Zeit im Einsatz, nach unbestätigten ukrainischen Angaben mussten viele davon ärztlich versorgt werden.
Auf Spurensuche in Tschornobyl
Erstmals unabhängige Messungen
Erstmals seit Beginn der russischen Invasion wurde nun unabhängig gemessen und die Aussage der Internationalen Atomenergieorganisation (IAEO) überprüft. Unter anderem um etwaige Interessenskonflikte auszuschließen: Stellvertretender Direktor der IAEO ist Mikhail Chudakov, ein jahrelanger Mitarbeiter des russischen Atomkonzerns Rosatom. Das staatseigene Unternehmen hat bislang 18 Nuklearreaktoren nach Europa verkauft; sie stehen in Finnland, Ungarn, Bulgarien, in der Slowakei und in Tschechien. Es ist in Russlands Interesse, Atomkraft als sicher darzustellen – sehr viel Geld hängt daran.
Dass die Sperrzone um Tschornobyl auch Jahrzehnte nach der Katastrophe gefährlich bleibt, zeigen die regelmäßigen Waldbrände in der Region, die radioaktiven Rauch entstehen lassen können. In dieser Gegend buchstäblich Staub aufzuwirbeln, führt zu einer messbar höheren Strahlenlast. Während des russischen Aufmarsches und der Erdarbeiten in der Region warnten Experten von Greenpeace davor, dies könne zu einer verstärkten radioaktiven Belastung führen. Die IAEO gab hingegen am 28. April Entwarnung. Die Atom-Organisation ist bislang zurückhaltend mit Kritik und tritt weiter für den weltweiten Fortbestand von Atomkraftwerken ein. Und nicht nur sie. “Die Europäische Kommission möchte die Atomkraft fördern und sie in ihre Taxonomie aufnehmen. Deshalb ist es wichtiger denn je, die Umweltauswirkungen der schlimmsten Atomkatastrophe der Welt zu dokumentieren und Atomkraft endlich zu beenden,” sagt Breuer.
Während die Atomruine Tschornobyl wieder von der Ukraine gesichert wird, ist es beunruhigend, dass das weltgrößte AKW in Zaporizhzhia nicht unter der Kontrolle der Atomaufsicht in Kyjiw steht und darüber hinaus in einer umkämpften Region liegt. “Atomanlagen können genauso wie Atomwaffenstützpunkte Angriffsziele sein oder sogenannte Kollateralschäden werden”, sagt Breuer. “Tschornobyl und Zaporizhzhia mahnen, dass Deutschland am Atomausstieg festhalten muss.”
* Warum Tschornobyl und nicht Tschernobyl? In deutschsprachigen Texten sind ukrainische Städte- und Flussnamen bisher in der Regel in der russischen Schreibweise zu lesen, z.B. die „Hauptstadt Kiew“ oder der „Fluss Dnepr“. Damit folgen deutsche Medien in der Regel einer Vorgabe der Arbeitsgruppe „Transkriptionen“ deutschsprachiger Nachrichtenagenturen – die allerdings zuletzt im Jahr 2003 aktualisiert wurde.
Schon seit vielen Jahren setzen sich Menschen und Organisationen aus der Ukraine für die ukrainische Transkription von Städtenamen ein – seit 2018 gibt es eine entsprechende Kampagne des ukrainischen Außenministeriums, um auch über diesen Ansatz deutlich zu machen, dass die Ukraine ein unabhängiger Staat mit einer eigenständigen Kultur und Sprache ist. Greenpeace folgt dieser Argumentation. Wir werden daher ab sofort wo möglich die ukrainische Transkription von Städte- und anderen geographischen Namen übernehmen.
Chornobyl Study
Anzahl Seiten: 30
Dateigröße: 11.65 MB
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