„Eine Atempause, mehr nicht“ – Experte Heinz Smital über Tschornobyl
- Im Gespräch
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30 Jahre nach dem Super-GAU: Was hat die Welt aus Tschornobyl gelernt? Und wie sieht es heute vor Ort aus? Antworten hat Heinz Smital, Greenpeace-Experte für Atomenergie.
Am 26. April 1986 ereignete sich die bisher schwerste Atomkatastrophe der Geschichte: Das sowjetische AKW Tschornobyl explodierte. Zehn Tage brannte der zerstörte Atomreaktor, schleuderte hochradioaktive Partikel in die Luft, die sich über die Ukraine, Russland und Europa verteilten. Riesige Landstriche wurden verstrahlt. Zehntausende Menschen starben, Hunderttausende erkrankten.
Wie ist die Situation in Tschornobyl heute? Und was hat die Menschheit aus diesem Unfall gelernt? Ein Interview mit Heinz Smital, Kernphysiker und Greenpeace-Experte für Atomunfälle.
Greenpeace: Was hat uns Tschornobyl gelehrt?
Heinz Smital: Die Atomkatastrophe hat uns gezeigt, dass Unfälle nicht nur Hypothesen sind, sondern dass sie tatsächlich passieren. Und dass wir ihre Auswirkungen – wie auch in Fukushima – nicht beherrschen können. Leider hat die Menschheit zu wenig daraus gelernt – noch heute laufen weltweit Hunderte Atomreaktoren. Jeden Tag kann sich ein neuer Unfall ereignen.
Tschornobyl hat uns auch gelehrt, dass die radioaktive Wolke mehre 1000 Kilometer reichen kann. Von Tschornobyl zog die Strahlung erst nach Schweden, dann nach Süddeutschland – auch dort sind bis heute in Pilzen und Wild erhöhte Strahlenwerte zu messen. Experten gehen davon aus, dass ein Atomunfall dazu führen kann, dass Gebiete in einem Radius von 600 Kilometern über Jahrzehnte unbewohnbar werden. Deshalb sind die maroden Altreaktoren in Frankreich, Belgien und der Schweiz auch eine besondere Gefahr für ganz Europa.
Tut die Bundesregierung genug gegen Alt-AKW wie Fessenheim, Cattenom, Tihange oder Doel?
Leider nein. Es ist absurd, dass die deutsche Regierung zwar einerseits im eigenen Land aus der Atomkraft aussteigt, um das Risiko für die Bevölkerung zu verringern. Auf der anderen Seite unternimmt sie jedoch wenig dagegen, dass in Deutschland weiterhin Brennstäbe für ausländische AKW hergestellt werden. Die Fabriken für Brennelemente in Gronau und Lingen produzieren den Kernbrennstoff auch für Doel, Tihange, Fessenheim und Cattenom – für hoch gefährliche Schrottreaktoren in Belgien und Frankreich nahe der deutschen Grenze. Derzeit prüft die Bundesregierung, ob es rechtliche Möglichkeiten gibt, den Bau der Brennelemente wenigstens nach dem Atomausstieg 2022 einstellen lassen zu können.
Im vergangenen Jahr hat sogar Umweltministerin Barbara Hendricks ein Herunterfahren der belgischen Altmeiler gefordert und damit diplomatische Verstimmungen in Kauf genommen. Im ganzen Land wächst der Widerstand gegen diese grenznahmen Risiko-Meiler. Für die Bevölkerung gibt es etliche Gelegenheiten, sich dagegen zu engagieren.
Der Super-GAU von Tschornobyl ist 30 Jahre her – wie sieht es heute vor Ort aus?
Die Lage ist nach wie vor dramatisch. Immer noch sind große Gebiete unbewohnbar und Hunderttausende Menschen an den Folgen der Radioaktivität erkrankt. Die Verseuchung mit den Radioisotopen Cäsium und Strontium hat sich bis heute gerade einmal halbiert. Doch die Belastung mit Plutonium, das eine Halbwertszeit von 24.000 Jahren hat, ist seit dem Unfall praktisch gleich geblieben.
Aber hat sich mit dem neuen Sarkophag die Lage nicht entspannt?
Die Schutzhülle wurde im vergangenen Jahr über den zerstörten Reaktor geschoben; sie ist das größte bewegliche Bauwerk der Welt. In ihm ist das gesamte Wissen aller Nuklearexperten dieser Welt versammelt – oder anders ausgedrückt: Mehr als diese Betonschutzhülle fällt uns Menschen nicht ein. Das Bauwerk verschafft uns eine Atempause – mehr nicht. Es wird vielleicht hundert Jahre halten, vielleicht nicht mal so lange. Aber für das eigentliche Problem, den geschmolzenen Reaktorkern unter dem zerstörten Meiler von Tschornobyl, hat die Menschheit bis heute keine Lösung.
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Tschernobyl: 30 Jahre danach - Die Lage am Standort
Anzahl Seiten: 67
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