Chile: Tausende tote Meerestiere durch Algenblüte
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Als Estefanía González, Greenpeace-Kampaignerin aus Chile, an jenem Tag im Mai 2016 an den Strand der Insel Chiloé geht, klingelt ihr Handy ununterbrochen. Während sie neben einem toten Seehund kniet, bekommt sie ständig Anrufe von Kolleg: innen, die ihr von weiteren verendeten Tieren berichten. An diesem Tag kommt sie nicht dazu, alle aufzusuchen.
Der Strand mit dem toten Seehund befindet sich auf Chiloé, der zweitgrößten Insel Chiles. Dort lebt ein Großteil der 150.000 Einwohner: innen vom Fischfang; die Menschen wohnen in kleinen Häusern mit bunten Holzdächern, die immer wieder zwischen den hügeligen Grünflächen auftauchen. Es ist eine Insel mit wunderschöner Landschaft und großer Biodiversität. Ein Paradies, das der Mensch zu zerstören droht.
Unkultivierte Aquakultur
Denn Chile ist der weltweit zweitgrößte Lachsproduzent – 800.000 Tonnen erzeugt das Land pro Jahr. Die Firmen, die dort Lachs kultivieren, sind aus Norwegen, Deutschland, Japan und den USA; 90 Prozent der Fische werden vor allem nach Russland, Brasilien, Japan, in die EU und USA exportiert. Die in Chile lebenden Menschen selbst haben wenig vom produzierten Lachs – müssen aber mit den Konsequenzen dieser extremen Aquakultur leben: Antibiotika und Chemikalien vergiften die Gewässer, zudem arbeiten die Angestellten in den Lachsfarmen oft unter schlechten Bedingungen.
Anfang 2016 kam es zu einer großen Krise, als 40.000 Lachse auf den Fischfarmen der Los-Lagos-Region, in der auch Chiloé liegt, verendeten. Dass Tiere sterben, ist normal auf den Lachsfarmen, doch diese immense Zahl direkt am Jahresanfang überforderte die Firmen: Sie baten die Regierung um Erlaubnis, die toten Fische im Meer zu entsorgen – und kippten 15 Tage lang ihres Lachs-Abfalls ins Wasser: 5000 Tonnen insgesamt. Mit gravierenden Folgen.
Die fehlende Zutat im Algenrezept
„Damit haben die Farmen die letzte Zutat im Rezept für die giftige Rotalgenblüte hinzugefügt“, erklärt Estefanía González. Und so wurden vier Monate nach der Entsorgung tausende Tonnen toter Fische und Muscheln an die Strände von Chiloé gespült; auch Seelöwen und Vögel lagen leblos im Sand. Sie alle starben an den Giften aus den Rotalgen. Chiles Regierung schob die tödliche rote Tide auf den Klimawandel. Doch viele lokale Fischende sind sicher, dass die verendeten Tiere mit der Entsorgung der Lachse in Verbindung gebracht werden können – und wandten sich an Greenpeace.
Nach drei Monaten wissenschaftlicher Untersuchungen präsentierte Greenpeace das Resultat: Die Rotalgenblüte ist kein neues Phänomen, sie taucht etwa alle drei Jahre auf – doch niemals in den Gewässern, an deren Küsten die toten Tiere gefunden wurden. Diese fand man zudem nur in den Regionen, in denen die toten Lachse entsorgt wurden.
Kein zweites Chiloé!
Greenpeace startete daraufhin eine Kampagne und fordert: Kein zweites Chiloé-Desaster – und keine weiteren Lachsfarmen in Magellanes, der südlichsten Region Chiles. Denn dorthin wollen die Lachsfarmer umziehen. Und dort – nur dort – ist der potenziell gefährdete chilenische Delfin zu Hause; die Landschaft ist fast noch unberührt. „Wir wollen kein neues Chiloé in dieser Region!“, sagt González. „Wenn wir die Unternehmen nicht stoppen, wird sich die Krise wiederholen.“ Schutz könnten Nationalparks bieten – doch deren Einrichtung ist ein langwieriger und bürokratischer Prozess.
Nationalparks statt Lachsfarmen
Die Landfläche für Nationalparks in Chile vermachte die Organisation Tompkins Conservation dem Land – mit der Bedingung, eben solche Parks einzurichten. Die Zusage dafür gab die chilenische Präsidentin Michelle Bachelet mit ihrer Unterschrift – doch Chiles Regierung rudert nun zurück: Die Fläche überschneidet sich mit Arealen, für die Genehmigungsanträge für weitere Lachsfarmen vorliegen. Regierung und Firmen versuchen nun, die Erlaubnis für so viele dieser Farmen wie möglich durchzusetzen, bevor die Nationalparks offiziell errichtet werden.
Auch das Umweltministerium in Chile unterstützt die Nationalparks kaum: Der Vertrag dafür solle nur dann unterzeichnet werden, wenn dieser sich auf Landflächen beschränkt und das Meer unberücksichtigt lässt. Damit hätten die Lachsfarmen freie Hand. Greenpeace kritisiert diese Vorgehensweise: Es geht bei den Nationalparks nicht um einzelne Ökosysteme, sondern um den Schutz sämtlicher untrennbar miteinander verbundener Ökosysteme. Zu denen gehört eben auch das Meeresgebiet.
Greenpeace kämpft nun für die Nationalparks, um die Region Magallanes vor der Zerstörung durch industrielle Lachsproduktion zu schützen. Denn ein zweites Chiloé muss unbedingt verhindert werden. Auch Estefanía möchte nie wieder in die leblosen Augen eines Seehundes blicken, der Opfer skrupelloser Lachsfarmen wurde. Wenn sie an den Stränden Chiles spazieren geht, beobachtet sie gern die Delfine, die elegant aus dem Wasser springen oder Möwen, die durch die salzige Luft über dem Meer gleiten – lebendig und frei, so wie es sein muss und bleiben soll.