EU-Kommission will Gentechnik deregulieren
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Die EU-Kommission schlägt vor, mit neuen Gentechnikverfahren erzeugte Pflanzen aus der bisherigen Regulierung zu nehmen. Aktive fordern Landwirtschaftsminister Cem Özdemir auf, das zu verhindern.
Verbraucher:innen lehnen Lebensmittel ab, auf denen „mit Gentechnik produziert“ steht – sie bleiben in den Regalen liegen. Deswegen nimmt der deutsche Handel sie gar nicht erst in den Verkauf. Nach europäischem Recht müssen Produkte, die gentechnisch veränderte Zutaten enthalten, als solche gekennzeichnet sein. Ein gestern von der EU-Kommission vorgelegter Gesetzesvorschlag sieht jedoch vor, mit neuen Gentechnikverfahren erzeugte Pflanzen komplett aus der bestehenden Regulierung zu nehmen – eine Bedrohung für die gentechnikfreie Lebensmittelerzeugung und damit die Wahlfreiheit der Konsument:innen.
Doch was veranlasst die EU-Kommission, die bestehende Regelung aufzuschnüren? Inzwischen gibt es neue Gentechnik-Verfahren, bei denen nicht mehr fremdes Erbgut in die Pflanzen eingebaut wird wie bei den alten Methoden, sondern bestimmte Genabschnitte ausgeknipst oder vervielfältigt werden. Für die EU-Kommission stellt das keine gentechnische Veränderung dar; Pflanzen, die so manipuliert wurden, unterliegen in dieser Logik also nicht dem Gentechnikgesetz.
Für die Agrarindustrie ist die Frage entscheidend, was Gentechnik umfasst und wie sie gekennzeichnet werden muss – für sie geht es um Geld. Nutzpflanzen, deren Erbmaterial gentechnisch verändert wurde, lassen sich Biotech-Konzerne wie Bayer und Corteva patentieren. Würden die mit den neuen Verfahren veränderten Pflanzen nicht unter die Gentechnik-Regulierung fallen, könnten sie für Verbraucher:innen nicht erkennbar in die Lebensmittelproduktion einfließen. Bäuer:innen, die gentechnikfrei wirtschaften möchten, hätten das Nachsehen, da sie nicht mehr durch Anbauregeln für Gen-Pflanzen geschützt wären.
Damit Lebensmittel-, Saatgutproduzierende sowie Verbraucher:innen künftig noch die Wahl haben, gentechnikfreie Produkte zu wählen, zogen Aktivist:innen heute vor das Bundeslandwirtschaftsministerium in Berlin. Greenpeace und anderen Umwelt- und Bäuer:innenverbände forderten Bundeslandwirtschaftsminister Cem Özdemir (Grüne) auf, sich für eine weitere Regulierung einsetzen.
Der Europäische Gerichtshof (EuGH) entschied jedenfalls im Jahr 2018, dass auch neue Verfahren, die man unter „gezielter Mutagenese“ zusammenfasst, als Gentechnik gelten und dementsprechend gekennzeichnet werden müssen. Mutagenese heißt: die Erzeugung einer dauerhaften Veränderung im Erbgut.
Wo beginnt Gentechnik?
Die in der Verhandlung vor dem EuGH aufgeworfenen Fragen beschäftigten sich vor allem mit dem Verfahren Crispr/Cas9, das sehr zielgerichtete Eingriffe ins Erbgut ermöglicht. Befürwortende dieser Methode erklären, dass die dadurch ausgelösten Mutationen sich nicht von solchen unterscheiden, die in der Natur ohnehin zwangsläufig passieren, etwa durch die UV-Strahlung des Sonnenlichts – „gentechnisch verändert“ sei dafür eine zu umfängliche Bezeichnung.
Kritiker wie Christoph Then vom Institut für unabhängige Folgenabschätzung in der Biotechnologie halten dagegen: Das Erbgut ist eine höchst komplexe Angelegenheit. Wenn die Gentechnologie an beliebiger Stelle Veränderungen einspeist - auch wenn sie präzise sind, heißt das nicht, dass dies keine Auswirkungen auch an anderer Stelle haben kann. Man nennt das „Off-Target-Effekte“: Die Veränderungen gehen am Ziel vorbei. Die Technologie ist damit nicht so berechenbar wie geglaubt.
Was ist Crispr?
Das Verfahren Crispr/Cas9 wird im Sprachgebrauch meist als Crispr abgekürzt – etwas salopper ist auch von der „Genschere“ die Rede. Die Abkürzung steht für „Clustered Regularly Interspaced Short Palindromic Repeats“, die Max-Planck-Gesellschaft übersetzt das mit „gehäuft auftretende, regelmäßig unterbrochene, kurze Palindrom-Wiederholungen“. Palindrome sind eigentlich aus der Sprachwissenschaft bekannt. Es sind Wörter oder Sätze, die sich vorwärts wie rückwärts lesen lassen, zum Beispiel „Reliefpfeiler“.
Für sich genommen sagen die Wiederholungen erst einmal nichts aus – aber sie dienen Gentechniker:innen als Erkennungsmerkmal, an welchen Stellen das Erbgut zerschnitten werden soll. Die Zelle repariert diese Stellen, allerdings nicht perfekt: Durch diese beabsichtigten „Schreibfehler“ werden unerwünschte Genfunktionen abgeschaltet.
Wo liegen die Gefahren der neuen Gentechnik?
“Crispr ist Gentechnik, auch wenn Befürworter:innen den dabei vorgenommenen Eingriff ins Erbgut herunterspielen”, sagt Christiane Huxdorff von Greenpeace. “Mit dem Verfahren will die Gentechnik-Industrie dasselbe erreichen, was die klassische Züchtung bereits tut, allerdings schneller, günstiger und präziser. Die genannten Off-Target-Effekte legen allerdings nahe, dass die so veränderten Pflanzen eben keine sind, die auch aus herkömmlicher Züchtung entstanden wären.”
Da liegt der Knackpunkt, auch rechtlich. Die EU definiert genetisch veränderte (demnach kennzeichnungspflichtige) Organismen so: „Ein Organismus mit Ausnahme des Menschen, dessen genetisches Material so verändert worden ist, wie es auf natürliche Weise durch Kreuzen und/oder natürliche Rekombination nicht möglich ist“ (Richtlinie 2001/18/EG). Das könnten die neuen Technologien nicht gewährleisten, befand das Gericht 2018.
Vorsorge statt Profit
“Die Auswirkungen solcher GVO („gentechnisch veränderte Organismen“) sind schwer abschätzbar”, so Huxdorff, “darum muss hier das Vorsorgeprinzip gelten.” Gelangen etwa gentechnisch veränderte Pflanzen in die Umwelt, sind sie nicht mehr aus ihr zu entfernen. Weil sie robuster sind, verdrängen sie andere Nutzpflanzen. Zudem besteht die Wahrscheinlichkeit, dass sie ihre Erbanlagen auf andere Pflanzen übertragen. Ökologische Landwirte könnten in dem Fall für ihre Produkte nicht mehr garantieren, dass sie 100 Prozent frei von Gentechnik sind – im Nachhinein ist eine durch Crispr veränderte Pflanze nicht von einer durch herkömmliche Züchtung oder natürliche Mutation entstandenen zu unterscheiden - auch nicht im Labor.
Umweltschutzorganisationen wie Greenpeace und Verbraucherschützer:innen sind darum der Meinung, dass mit Crispr entstandene Lebensmittel wenn schon nicht unzulässig, so doch zumindest nach strengeren Zulassungsregeln gehandhabt werden und kennzeichnungspflichtig sein müssen – mit den entsprechenden Folgen für Saatguterzeugende und den Handel. Dieser Einschätzung schloss sich der Europäische Gerichtshof 2018 an. Ein neuer Gesetzesvorschlag der EU-Kommission sieht nun jedoch vor, mit neuen Gentechnikverfahren erzeugte Pflanzen komplett aus der bestehenden Regulierung zu nehmen. Eine Abschwächung der Gentechnikregeln hätte schwerwiegende Folgen für Verbraucher:innen, Umwelt und die gentechnikfreie Saatgut- und Lebensmittelerzeugung. Denn ohne Regulierung würden Risikoprüfung und Zulassungsverfahren genauso wie Kennzeichnung, Rückverfolgbarkeit und Haftung wegfallen.
In den kommenden Monaten wird der Vorschlag im Trilog mit Europäischem Parlament und Minister:innenrat diskutiert. Wie Deutschland sich im Rat positioniert, hat großen Einfluss darauf, ob das bewährte Gentechnikgesetz in der EU weiterhin bestehen bleibt und auch für die neuen Gentechniken gültig ist. „Landwirtschaftsminister Cem Özdemir muss sich auf EU-Ebene für eine konsequente Regulierung neuer Gentechnik einsetzen”, sagt Landwirtschaftsexpertin Huxdorff. “Ist die Deregulierung auf europäischer Ebene beschlossen, hat er keinerlei Möglichkeiten, im Nachhinein nationale Verbote für einzelne Pflanzen zu erlassen.”