Der Castortransport nach Gorleben 2010 - ein Rückblick
- Hintergrund
Am Nachmittag des 5. November verlässt der Zug mit den insgesamt 123 Tonnen hochradioaktiven Materials den Verladebahnhof in Valognes. Bereits zwei Stunden später sorgen etwa 30 Aktivisten für eine erste Blockade. Mitglieder der Aktionsgruppe nicht gewalttätiger Atomkraftgegner (Groupe d'actions non-violentes anti-nucléaire) haben sich im nordfranzösischen Caen an die Gleise gekettet. Die Einsatzkräfte der Polizei brauchen drei Stunden, um sie zu befreien.
In Dannenberg versammeln sich am 6. November mehr als 50.000 Menschen, um friedlich gegen die Castortransporte ins Wendland zu demonstrieren. Der Protest richtet sich auch gegen die Atompolitik unter Schwarz-Gelb: Die Bevölkerung dulde keine Klientelpolitik für Atomkonzerne auf Kosten ihrer Sicherheit, so die Veranstalter der Großdemonstration. Greenpeace-Chef Kumi Naidoo appelliert in seiner Rede an Bundeskanzlerin Angela Merkel, die Gefahren ernst zu nehmen, die von der Nutzung von Atomenergie ausgehen und den Atomwahnsinn zu beenden.
Immer wieder verzögert sich der Transport. So muss der Zug am Samstagabend halten, weil drei Greenpeace-Kletterer sich nahe der deutsch-französischen Grenze von einer Brücke über den Gleisen abgeseilt haben. Mit Bannern fordern sie dazu auf, den Atommüll im grenznahen Atomkraftwerk Philippsburg (Baden-Württemberg) zu lagern. Dort sowie in den süddeutschen Kraftwerken Isar (Bayern) und Biblis (Hessen) ist vor Jahren der Großteil des Atommülls angefallen, der in Frankreich und Großbritannien aufbereitet wird.
Zahlreiche Sitzblockaden und Aktionen, unter anderem der Schotterer, bringen den Castorzug auch einen Tag später wiederholt zum Stillstand. Die Polizei reagiert deutlich härter als noch am Vortag, geht mit Tränengas, Schlagstöcken und Wasserwerfern gegen die Protestierenden vor. Mehrere hundert Menschen werden verletzt.
{image_r}In der Nacht zum 8. November steht der Zug einige Stunden in Dahlenburg, rund 30 Kilometer vor Dannenberg - und nur zehn Meter vom nächsten Wohnhaus entfernt. Die Bewohner sind besorgt. Sie bitten Greenpeace, die Strahlung zu messen. Als das Greenpeace-Team um den Kernphysiker Heinz Smital eintrifft, wird ihm von der Polizei teils mit körperlicher Gewalt der Zugang zum Haus verweigert. Erst auf telefonische Anweisung durch die Rechtsberaterin der Einsatzleitung lassen die Beamten die Strahlenmessung zu - und nur aus einem bestimmten Winkel.
Eine von Greenpeace durchgeführte Messung der Neutronenstrahlung während des Umsetzens der elf Castoren auf Straßentieflader in Dannenberg ergibt einen Wert, der 480-fach über der normalen Hintergrundstrahlung liegt. Greenpeace-Atomexperte Heinz Smital zeigt sich besorgt und nennt die Berichte und Grafiken zur Neutronenstrahlung der Gesellschaft für Anlagen- und Reaktorsicherheit (GRS) manipulativ und verharmlosend.
{image_r}Neben Straßenblockaden durch Sitzstreiks, Traktoren, Ziegen und Schafe sorgt in den Abendstunden des 8. November vor allem eine Greenpeace-Aktion für Furore. Herzerfrischend anders - so lautet die Aufschrift des ehemaligen Brauereifahrzeugs, in dem fünf Aktivisten die Polizeikontrollen passiert haben. Mithilfe des umgebauten Bierlasters gelingt es, die Zufahrtstraße zur Verladestation in Dannenberg 13 Stunden lang zu versperren. Erst in den Morgenstunden des 9. November kann der Getränkewagen, von dessen Innenraum aus sich die Greenpeace-Aktivisten mit Beton und Stahl an der Straße fixiert haben, geräumt werden.
Mehr als einen Tag verspätet treffen die Castoren schließlich im Zwischenlager Gorleben ein. Mit einer Dauer von 92 Stunden und begleitet von zigtausenden Demonstranten war es der längste und meistumkämpfte Atommülltransport aller Zeiten - zugleich auch der gefährlichste und teuerste. Das radioaktive Inventar war elfmal höher als die Strahlung, die in Tschernobyl 1986 freigesetzt wurde. Die geschätzten Gesamtkosten betrugen 50 Millionen Euro. In den Medien ist von einem Rekord-Transport die Rede.
Der nächste Castorzug aus Frankreich soll 2011 durch Deutschland rollen.
(Autorin: Carolin Sprenger)