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© F. Vieira / NurPhoto / Getty

EU-Mercosur: Feminismus? Fehlanzeige!

Laut Studien von Prof. Castilho bedroht das EU Mercosur-Abkommen Arbeitsplätze im Industrie- und Dienstleistungssektor in Südamerika – bis zu 400.000 Jobs sind in Brasilien gefährdet, vor allem Frauen sind betroffen.

Marta Castilho ist Professorin an der Bundesuniversität von Rio de Janeiro (UFRJ), wo sie die Forschungsgruppe für Industrie und Wettbewerbsfähigkeit koordiniert. Sie forscht unter anderem im Bereich der internationalen Wirtschaft, mit Schwerpunkt auf internationalem Handel und Handelspolitik sowie zu Wirtschaft und Gender.

Greenpeace-Waldexpertin Gesche Jürgens sprach mit ihr im April in Rio de Janeiro.

Prof. Marta Castilho

Prof. Marta Castilho, Expertin für für Industrie und Wettbewerbsfähigkeit

Greenpeace: Frau Castilho, wie bewerten Sie das EU-Mercosur-Abkommen mit Blick auf die wirtschaftliche Entwicklung für Brasilien?

Marta Castilho: Das Abkommen ist kontraproduktiv für die Entwicklung in Brasilien. Denn aktuell ist die Industrie im Vergleich zu der Europas viel weniger konkurrenzfähig. Das wird zum Problem, wenn Teile des Marktes für europäische Unternehmen geöffnet werden. Die brasilianische Industrie ist in verschiedener Hinsicht (Technologie, Arbeitsplätze und Umwelt) zwar nicht vorbildlich, aber produziert wahrscheinlich immer noch besser und mit weniger negativen Auswirkungen auf die Umwelt als das Agrobusiness. Und wir müssen daran arbeiten, unsere Industrien wettbewerbsfähiger und ökologischer zu machen. Denn Umweltfragen sind heute auch in Brasilien wichtig und die industrielle Entwicklung muss diese berücksichtigen. So wie das Abkommen 2019 beschlossen wurde, gefährdet es die Weiterentwicklung der brasilianischen Industrie und die Arbeitsplätze, die damit zusammenhängen.

Greenpeace: Sie forschen zu dem Abkommen – was sind die wichtigsten Erkenntnisse Ihrer Forschung?

Marta Castilho: Als Gewinner wird ja hier in Brasilien immer das Agrobusiness genannt. Aber wenn man mal genauer hinschaut, sind die wirklichen Gewinne wahrscheinlich gar nicht so groß, da wird viel Lärm um nichts gemacht. 

Verlieren würde Brasilien aber in vielerlei Hinsicht, vor allem wenn es darum geht, Brasilien mit Blick auf die Umwelt weiterzuentwickeln und mehr Arbeitsplätze zu schaffen. Ein weiterer wichtiger Punkt ist die öffentliche Beschaffung, also Produkte und Dienstleistungen, die der Staat erwirbt und beauftragt. In Brasilien hat diese eine lange Tradition und wird zum Beispiel genutzt, um gezielt kleine und lokale Produzent:innen zu fördern, vor allem im Bereich der Landwirtschaft. Die öffentliche Beschaffung ist grundsätzlich ein sehr wichtiges Instrument, um bestimmte Sektoren gezielt zu fördern, und übrigens im globalen Norden weit verbreitet. Wenn sie nun für Unternehmen aus der EU geöffnet wird, hat das erhebliche negative Konsequenzen hier in Brasilien.

Greenpeace: Uns ist in Ihren Forschungsergebnissen aufgefallen, dass durch EU-Mercosur die Gefahr besteht, dass in Brasilien überproportional Jobs von Frauen gefährdet sind. Können Sie uns erklären, warum?

Marta Castilho: Wir haben untersucht, wie viele Arbeitsplätze mit dem Import- und dem Exportgeschäft zusammenhängen. Importe gefährden tendenziell Arbeitsplätze in Brasilien, beim Export ist das anders herum, da entstehen eher mehr Arbeitsplätze. Für EU-Mercosur haben wir uns die Details angeguckt: Was wird eigentlich genau importiert und was exportiert. Die Arbeitsplätze im Export sind vor allem im Bereich des Agrobusiness angesiedelt, und da arbeiten vor allem Männer. 

Mehr Export schafft also nicht mehr und bessere Arbeitsplätze für Frauen. Und bei den bedrohten Arbeitsplätzen durch mehr Importe sind dann wiederum mehr Arbeitsplätze von Frauen als von Männern betroffen. Unserer Analyse nach wären dann etwa 286.700 Arbeitsplätze von Frauen gefährdet, im Vergleich zu 155.600 Arbeitsplätzen von Männern. Und das sind nur die reinen Zahlen. Wenn wir über die Qualität von Jobs sprechen, sind durch das Abkommen und mehr Importe aus der EU vor allem die besseren Jobs in Brasilien bedroht, und zwar über die Geschlechter hinweg.

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Greenpeace: Was bräuchte es aus Ihrer Sicht an politischen und wirtschaftlichen Maßnahmen, um die von Lula angekündigte sozial-ökologische Transformation in Brasilien voranzubringen?

Marta Castilho: Wir brauchen mehr Investments in eine sozial-ökologische Transformation. Durch öffentliche Beschaffung, aber auch durch die brasilianische Entwicklungsbank (BNDES) und die Agentur zur Innovationsförderung (FINEP), können wir das steuern. Wir brauchen jetzt eine Politik, die die Wissenschaft,Technologie, soziale Gerechtigkeit und nachhaltige Entwicklung hier in Brasilien fördert. Und es ist wichtig, dass wir uns auch innerhalb Südamerikas gegenseitig unterstützen und stärken, um durch regionale Geschäftsstrukturen und Lieferketten gemeinsam Fortschritt und bessere Wettbewerbsfähigkeit als Region zu erreichen. In Europa gibt es schon seit einiger Zeit regionale Produktionsketten, die entscheidend für die Position dieser Länder auf den Weltmärkten sind, auch für Deutschland. Sie sind auch in Zeiten von Krisen im Welthandel wichtig, wie zum Beispiel während der Pandemie. 

Was bedeutet das für das EU-Mercosur-Abkommen?

Ich hoffe, dass der Deal, so wie er 2019 unterschrieben wurde, nicht in Kraft tritt. Er ist in vielerlei Hinsicht problematisch; und er droht auch ein falsches Vorbild für weitere Deals mit anderen Staaten zu werden. Und noch mehr Deals wie EU-Mercosur würden die nachhaltige Entwicklung Brasiliens natürlich noch mehr gefährden. Ebenfalls inakzeptabel wäre ein Splitting des Deals, also einfach nur den Handelsdeal zu ratifizieren. Denn dann würdees mit dem Teil des Abkommens, dem ich etwas Gutes abgewinnen kann, beispielsweise dem Abschnitt zur politischen Zusammenarbeit und Kooperation, gar nicht vorangehen. Doch Kooperation und Austausch zu Lösungen sind wichtig – da sehe ich Potenzial für mehr Austausch zwischen der EU und dem Mercosur, zum Beispiel zu nachhaltigem Konsum.

Was erwarten Sie von der Regierung in Deutschland?

Was wir jetzt brauchen, ist eine Unterstützung der deutschen Bundesregierung für eine Strategie, die eine nachhaltige Entwicklung Brasiliens verfolgt. Deswegen müssen wir ganz konkret über Inhalte des Deals sprechen.

Und noch eins: Ich habe die Medien in den letzten Monaten verfolgt und mich da doch über manche Aussagen der deutschen Bundesregierung gewundert. Vielleicht sollte sich die deutsche Bundesregierung noch mal überlegen, wer eigentlich “die brasilianische Zivilgesellschaft” ist, die angeblich den Deal unterstützt. Mir ist diese zumindest nicht bekannt.

Vielen Dank für das Interview, Frau Castilho, und alles Gute für Sie.

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