Starke Worte - schwache Taten: Bilanz des ersten Amtsjahres von Cem Özdemir
- Im Gespräch
Tierwohl, Höfesterben, Klimaschäden durch Anbau und Tierhaltung – bei seinem Antritt als Bundeslandwirtschaftsminister verspricht Cem Özdemir im Dezember 2021, die dringenden Probleme der Landwirtschaft anzupacken und wirkungsvolle Maßnahmen zu ergreifen. Nach einem Jahr zieht Greenpeace Bilanz – was konnte der erst zweite grüne Minister im BMEL bisher umsetzen und wo blieb es bei großmundigen Ankündigungen?
Zusammenfassend lässt sich feststellen: kaum konkrete politische Umsetzungen, dazu nur wenig Bereitschaft zur Konfrontation, sowohl innerhalb der Koalition als auch im Umgang mit Verbraucher:innen und Landwirt:innen. In einer Bilanz der grünen Agrarpolitik in der Ampelkoalition beleuchten die Greenpeace-Landwirtschaftsexperten Matthias Lambrecht und Martin Hofstetter einige der drängendsten Themen genauer.
Der Landwirtschaftsminister schlägt gern den Weg des geringsten Widerstands ein und gibt bei wichtigen Themen dem Druck des Bauernverbandes und der Agrarindustrie nach. Allzu oft entsteht dabei der Eindruck, dass ergebnisorientierte Sachpolitik bei Özdemir zurückstehen muss, wenn sie droht, sein öffentliches Image als zeitweise beliebtester Politiker in den vergangenen Monaten zu gefährden.
Özdemir, der Ankündigungsminister?
Denn im Gegensatz zu seiner vollmundigen Charakterisierung der Grünen als “Macherpartei” lassen sich ausgerechnet in Özdemirs Bilanz nach einem Jahr nur wenig konkrete Ergebnisse ausmachen. Vieles kündigt der Minister an, doch nur wenige Gesetzesvorhaben oder Verordnungen bringt er auf den Weg. Stattdessen plant er eine Neuauflage der Zukunftskommission Landwirtschaft und des Kompetenznetzwerks Nutztierhaltung (Borchert-Kommission), die ihre Arbeit längst abgeschlossen und bereits konkrete Handlungsempfehlungen vorgelegt haben. Damit droht die überfällige Transformation der Landwirtschaft weiter verschleppt zu werden.
Nur zu beschreiben und einzufordern, was passieren müsste, reicht nicht, wenn der Output Maßstab des eigenen Erfolgs sein soll. Den Worten müssen jetzt Taten folgen - auch wenn Özdemirs Zeit als Bundesminister möglicherweise begrenzt ist: Sein Interesse, sich als Nachfolger des grünen Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann in Baden-Württemberg zu empfehlen, sollte Ansporn für den Landwirtschaftsminister sein, die Agrarpolitik in den kommenden Monaten auf Bundesebene und in der EU ergebnisorientiert zu gestalten.
Die Analyse beleuchtet ausführlich den aktuellen Stand der drängendsten Themen. Welche Fortschritte gibt es beim Umbau der Tierhaltung und einer Reduzierung des Fleischkonsums? Wie geht es mit der Reduzierung des Pestizideinsatzes in der Landwirtschaft voran? Setzt sich Özdemir umfassend für einen Ausstieg aus dem Biosprit ein, durch den Flächen für den Anbau wertvoller Nahrungsmittel frei würden? Und ergreift er die richtigen Maßnahmen, um mit den dramatischen Folgen der Klimaveränderungen für die Landwirtschaft umzugehen?
Das Fazit in Kürze
- Umbau der Tierhaltung und Anreize für weniger Fleischkonsum
➡ Kennzeichnung nicht ausreichend, Finanzierung weiter unklar, keine Anreize für nachhaltigen Konsum
- Pestizideinsatz und Erhalt der Artenvielfalt
↘ Nationale Vorgaben für weniger Pestizideinsatz fehlen, Exportverbot nur angekündigt, Glyphosat weiter zugelassen - Biosprit und Hungerbekämpfung
➡ Keine klare Kante gegen Verkehrsminister Wissing, Rückschlag für Artenschutz auf ökologischen Vorrangflächen - Klimaschutz / Moore
↘ Klimaschutz hat keine Priorität, Sofortprogramm bleibt unkonkret, Moorschutzstrategie ohne Perspektiven, Stoffstrombilanzverordnung weiter aufgeschoben
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Interview zum Amtsantritt vom Dezember 2021:
Was Landwirtschaftsminister Özdemir jetzt anpacken muss
Das Bundesministerium für Landwirtschaft und Ernährung ist seit heute nach fast zwei Jahrzehnten zum zweiten Mal unter grüner Leitung. Der Koalitionsvertrag gibt die Richtung vor. Jetzt steht Cem Özdemir in der Verantwortung, die Agrarwende zum Schutz von Klima und Arten zu schaffen. Ein Interview mit Martin Hofstetter, Landwirtschaftsexperte von Greenpeace.
Greenpeace: Ist Cem Özdemir (Die Grünen) als neuer Bundesminister für Landwirtschaft und Ernährung eine gute Wahl?
Martin Hofstetter: Politische Personalenscheidungen kommentieren wir grundsätzlich nicht. Wir gratulieren Cem Özdemir herzlich zum neuen Amt und wünschen ihm gutes Gelingen! Dazu gehört für uns vor allem anderen, dass der neue Minister endlich die Agrarwende zum Schutz der Arten und des Klimas in der Landwirtschaft einleitet. Da ist unter seiner Amtsvorgängerin Julia Klöckner (CDU) fast alles liegen geblieben. Özdemir wird schnell und entschlossen handeln müssen. Auch um den betroffenen landwirtschaftlichen Betrieben, die unter der Unsicherheit durch politische Untätigkeit viel zu lange gelitten haben, endlich klare und verlässliche Perspektiven zu bieten.
Leitlinie für die Agrarpolitik der kommenden Jahre wird der Ende November verabschiedete Koalitionsvertrag von SPD, Grüne und FDP sein. Ist dieser Vertrag die Handlungsanweisung für eine echte Agrarwende, die Cem Özdemir jetzt nur noch umsetzen muss?
Im Koalitionsvertrag ist der Wille, die Landwirtschaft transformieren zu wollen, durchaus erkennbar. Zu vieles ist aber nur vage umschrieben. Es fehlen konkrete Maßnahmen, wie die Agrarwende eingeleitet werden soll. Da muss der Minister jetzt zügig nacharbeiten.
Wo hat die Ampelkoalition im Vertrag echte Fortschritte vereinbart?
Im gesamten Kapitel zur Landwirtschaft ist eine moderne ökologische Handschrift erkennbar. Zwar lassen viele verschwurbelte Formulierungen, die wohl nötig waren, um Kompromisse zu finden, unterschiedliche Interpretationen zu. Aber das eröffnet ja auch Gestaltungsspielräume für Cem Özdemir. Auf viele sinnvolle und gute Maßnahmen hat sich die Ampel insbesondere bei der Tierhaltung verständig. Jetzt muss sich zeigen, was davon im Gesetzgebungsverfahren die notwendigen Mehrheiten findet. Im Bundesrat kann die Union ja immer noch vieles verhindern oder verzögern.
Wo liegen die Defizite?
Wenn es um den Einsatz von Pestiziden und den Schutz der Biodiversität geht, sieht es deutlich schlechter aus. Hier gibt es keine ordnungspolitischen Ansätze - also keine strengeren Regeln oder Verbote, die Giftstoffe in der Umwelt zu verteilen. Im Gegenteil sind teilweise sogar Vereinfachungen bei der Zulassung und Anwendung von Pestiziden geplant. Und wie Fördermittel oder ökonomischen Anreize finanziert werden sollen, um den Pestizideinsatz herunterzufahren, ist völlig unklar. Mit der Verabschiedung der EU-Agrarreform, die Özdemirs Amtsvorgängerin vor der Bundestagswahl vorangetrieben hat, sind die Fördermittel für die Landwirtschaft in den kommenden Jahre festgelegt. Und auch die Finanzierung des Umbaus der Tierhaltung bleibt im Koalitionsvertrag offen. Sehr schade, dass da anscheinend die FDP eine Festlegung auf eine Fleisch-Abgabe oder eine Mehrwertsteuerreform verhindert hat.
Greenpeace hat sich lange für eine verpflichtende Haltungskennzeichnung stark gemacht. Die soll jetzt bis 2022 kommen. Sind die rechtlichen Zweifel damit vom Tisch, dass Deutschland in der EU vorangehen und die verpflichtende Kennzeichnung auf nationaler Ebene durchsetzen kann?
Bis auf Julia Klöckner und einige Unternehmen der Lebensmittelindustrie sind sich schon lange alle wichtigen Marktteilnehmer einig, dass wir eine gesetzlich verankerte und verpflichtende Haltungskennzeichnung für Fleisch und Milchprodukte in Deutschland brauchen. Die alte Bundesregierung hat in Brüssel nie überprüfen lassen, ob es juristische Bedenken gibt, wenn Deutschland das national regelt. Uns liegen Gutachten vor, die zeigen, dass es rechtlich machbar ist. Jetzt ist Cem Özdemir gefordert, die längst überfällige verpflichtende und staatlich kontrollierte Kennzeichnung für alle Fleisch- und Milchprodukte im Handel ebenso wie in der Gastronomie einzuführen. Deutschland kann damit in Europa eine Vorreiterrolle einnehmen.
Was muss der neue Minister tun, damit die Tiere in den Ställen artgerecht gehalten werden?
Im Koalitionsvertrag ist festgehalten, dass die Lücken in den Verordnungen zur Tierhaltung geschlossen werden sollen. Auch hier muss endlich angepackt werden, was lange versäumt wurde: Bis heute gibt es beispielsweise keine Nutztierhaltungsverordnungen für Rinder und für Puten. Darüber hinaus gehören auch die bestehenden Verordnungen grundlegend überarbeitet, damit sie den im Grundgesetz verankerten gesetzlichen Anforderungen an den Tierschutz genügen und dem aktuellen Stand der Wissenschaft entsprechen. Denn der bislang geltende Mindeststandard in Schweine- und Sauenställen ist tierschutzwidrig. Sehr zu begrüßen ist, dass die neue Koalition Verstöße gegen den Tierschutz konsequenter verfolgen und strenger bestrafen will. Es ist jetzt Aufgabe von Cem Özdemir, dafür die Voraussetzungen zu schaffen. Bisher werden Ställe je nach Bundesland nur alle zwanzig bis fünfzig Jahre staatlich kontrolliert. Solange aber Verstöße mangels Aufsicht nicht auffallen, können sie auch nicht bestraft werden und bleiben folgenlos.
Wie sollen bäuerliche Betriebe unterstützt werden, wenn sie in bessere Haltungsbedingungen investieren?
Im Koalitionsvertrag stehen auch dazu nur vage Andeutungen, wie der Umbau der Tierhaltung finanziert und gefördert werden soll, bleibt offen. Dabei gibt es - unter anderem von der eigens dafür eingesetzten Borchert-Kommission - bereits einige Vorschläge, wie das gelingen kann. Klar ist, dass die Landwirt:innen die Last dieses gesellschaftlich gewünschten und grundlegenden Wandels der Landwirtschaft nicht alleine stemmen können. Doch weder der Vorschlag, zur Finanzierung der Förderung die ermäßigten Mehrwertsteuer auf Fleisch- und Milchprodukte anzuheben, noch die Einführung einer Tierwohlabgabe haben es als konkrete Maßnahmen in den Koalitionsvertrag geschafft.
Wie will die Ampelkoalition die Klimaziele in der Landwirtschaft erreichen - die Emissionen aus der Tierhaltung sind dabei ja ein wesentlicher Faktor?
Im Koalitionsvertrag steht lediglich, dass die Tierbestände entsprechend den Erfordernissen von Umwelt und Klimaschutz angepasst werden sollen. Es wird erwähnt, dass dazu eine flächengebundene Tierhaltung angestrebt wird - was das konkret heißt, bleibt unklar. Ein grüner Agrarminister in einer Regierung, die mehr Fortschritt wagen will, darf aber die unbequemen Wahrheiten nicht verschweigen, wenn er auf dem Weg zu den Klimazielen vorankommen will. Und diese Ziele sind in der Landwirtschaft nur zu erreichen, wenn die Zahl der Tiere und der Verbrauch von Fleisch- und Milchprodukten in den kommenden Jahren drastisch sinken. Das Öko-Institut hat vorgerechnet, dass Deutschland nur mit halb so vielen Tieren in der Landwirtschaft bis 2045 klimaneutral werden kann. Den dafür notwendigen grundlegenden Umbau der Landwirtschaft muss Cem Özdemir jetzt gestalten - und die betroffenen bäuerlichen Betriebe unterstützen.
Das wird den Druck auf viele Bäuerinnen und Bauern noch erhöhen. Hat die neue Bundesregierung ein Konzept, um das seit Jahren ungebremste Höfesterben zu stoppen?
Im Koalitionsvertrag ist davon noch nicht viel zu sehen. Nach der missglückten EU-Agrarreform ist die gezielte Förderung umwelt- und klimafreundlich wirtschaftender Betriebe weiterhin nur eingeschränkt möglich. Deshalb steht Cem Özdemir jetzt in der Pflicht, den Betrieben beim Umbau mit verlässlichen Vorgaben Planungssicherheit zu verschaffen und die Unterstützung auf nationaler Ebene zu organisieren. Gut ist, dass der Bund in Zukunft seine eigenen Flächen (BVVG Flächen) gezielt an ökologische Betriebe verpachten will. Zusätzlich braucht es aber eine Reform des Bodenmarktes, die verhindert, dass externe Investor:innen die Preise für landwirtschaftliche Flächen immer weiter in die Höhe treiben. Beim Umbau der Tierhaltung müssen gezielt kleinere und mittlere Betriebe unterstützt werden. Sonst verlieren immer mehr Bäuerinnen und Bauern ihre wirtschaftliche Existenz.
Eine Halbierung der Tierzahlen hierzulande ergibt aber nur Sinn für den Klimaschutz, wenn auch die Verbraucher:innen in Deutschland den Konsum tierischer Produkte deutlich reduzieren. Wie kann das in den kommenden Jahren gelingen?
Um das Konsumverhalten zu verändern, müssen Verbraucher:innen besser über die ökologischen und gesundheitlichen Folgen der Lebensmittelproduktion informiert werden - etwa über eine verpflichtende Kennzeichnung. Es muss außerdem Schluss sein mit der Subvention klimaschädlicher tierischer Erzeugnisse über die ermäßigte Mehrwertsteuer, die Fleisch und Milchprodukte künstlich verbilligt. Stattdessen müssen gesunde und klimafreundliche Lebensmittel wie Obst und Gemüse mit einer weitgehenden Mehrwertsteuerbefreiung für alle erschwinglich werden. Und in den Kantinen von Ministerien, Behörden und Kasernen sowie den Mensen von Schulen und Hochschulen sollte der Staat mit gutem Beispiel vorangehen und ausschließlich Gerichte aus Bio-Produkten und weniger Fleisch anbieten.
Landwirtschaftlich genutzte, trockengelegte Moorflächen stoßen in großem Umfang CO2 aus. Was sieht der Koalitionsvertrag vor, um diese Emissionen zu senken?
Immerhin hat die Ampel-Koalition die Bedeutung der Moore für den natürlichen Klimaschutz erkannt. Sie will eine nationale Moorschutzstrategie verabschieden und zügig umsetzen. Dabei wird es darauf ankommen, dass klare anspruchsvolle Ziele für die Wiedervernässung der Moorböden und die Minderung der CO2-Emissionen formuliert werden.
Das Artensterben auf dem Land schreitet voran, vor allem das Insektensterben ist dramatisch. Ist die Ampel-Koalition bereit, endlich wirksame Maßnahmen zu ergreifen, um diese verhängnisvolle Entwicklung zu stoppen?
Da bleibt die Ampel-Koalition im Vertrag die Antwort schuldig. Zwar soll es ein Pestizidkataster geben, das transparent macht, wo welche Pestizide ausgebracht werden. Aber ambitionierte Vorgaben, um den Einsatz von Pestiziden zu vermindern, fehlen komplett. Hier muss der neue Minister dringend nachbessern, sonst wird das Artensterben noch dramatischer. Ich hoffe, dass das Umwelt- und das Landwirtschaftsministerium dabei in Zukunft besser zusammenarbeiten als in den vergangenen Jahren. Die EU-Kommission hat in ihrer Farm-to-Fork-Strategie klare und notwendige Ziele formuliert, um den Pestizideinsatz zu reduzieren. Deutschland sollte jetzt aktiv dafür eintreten, diese Ziele zu erreichen.
Wie steht die Koalition zu strittigen Themen wie Gentechnik und Glyphosat, zu denen wichtige Entscheidungsprozesse in der EU anstehen?
Zur brisanten Frage, ob neue gentechnischer Verfahren weniger streng reguliert werden sollen, wie es die EU-Kommission plant, gibt der Koalitionsvertrag keine Antwort. Um die gentechnikfreie und ökologische Landwirtschaft zu schützen und Transparenz und Wahlfreiheit beim Einkauf zu sichern, wäre es außerordentlich wichtig, dass auch neue Verfahren wie CRISPR als Gentechnik reguliert bleiben. Bei den Abstimmungen in der EU wird es auf Deutschland ankommen. Da erwarten wir vom Landwirtschaftsminister ebenso wie von der neuen Umweltministerin Steffi Lemke (Die Grünen), dass sie in Brüssel klare Kante zeigen. Das gilt ebenso, wenn im kommenden Jahr beschlossen wird, ob die Zulassung für Glyphosat in der EU verlängert werden soll. Der Koalitionsbeschluss, den Verkauf des Totalherbizids in Deutschland auslaufen zu lassen, reicht für einen wirksamen Schutz der Artenvielfalt in Europa nicht aus.
(Artikel vom 8.12.2021, aktualisiert am 7.12.2022)