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Thomas Gernot von hinten auf dem Amazonas
Thomas Gernot / Greenpeace

Corona trifft Brasilien besonders stark / Amazonas-Zerstörung steigt trotzdem – Interview mit Naturschützer Thomas Gernot

In Brasiliens Urwaldstadt Manaus sterben die Menschen wie die Fliegen, der Amazonas wird trotzdem gerodet. Naturschützer Thomas Gernot gibt Einblicke in ein verzweifeltes Land.

Die Corona-Fälle in Brasilien steigen rasant an. Kein Wunder bei einem Präsidenten Jair Bolsonaro, der die Krankheit als „kleine Grippe“ bezeichnet und bis heute nicht ernst nimmt. Besonders schlimm ist die Situation in Manaus, einer durch keine größere Straße mit dem restlichen Land verbundenen Zwei-Millionen-Metropole im Amazonas-Regenwald: Dort ist das schon vor der Corona-Krise marode Gesundheitssystem zusammengebrochen, die zwei moderneren Krankenhäuser der Stadt sind hoffnungslos überfüllt. Die Menschen sterben auf den Krankenhausfluren oder zu Hause in ihren Holzhütten. Die Friedhöfe sind überlastet. Bilder, wie Verzweifelte die Toten in Massengräbern beisetzen, gingen um die Welt.

Thomas Gernot lebt seit fast 20 Jahren in der Region. Sein Name ist ein Pseudonym, aus Angst vor Mörderbanden in Brasilien. Von 2001 bis 2012 lebte der Naturschützer, Tier- und Menschenrechtler direkt in Manaus und arbeitete unter anderem mit Wald-Experte Oliver Salge für Greenpeace zum Schutz des Amazonas-Regenwaldes. Momentan lebt er in Argentinien; in Manaus verbringt er jedoch jedes Jahr noch mehrere Monate.

Zurzeit befindet sich Thomas Gernot in seiner Wohnung in Argentinien, wegen des rigorosen Shut-Downs zur Eindämmung der Corona-Krise in diesem Land darf er sein Dorf nicht verlassen. Zu seinen Freunden und Bekannten, ehemaligen Mitarbeitern und deren Familien in Manaus hat er aber über Telefon und Internet täglichen Kontakt. Im Interview erzählt er von der dramatischen Lage vor Ort, von den Gründen, warum Corona Brasilien so heftig trifft und wie es sein kann, dass große Teile des Landes sich trotz des verantwortungslosen Handelns hinter seinem Präsidenten Bolsonaro scharen.

Greenpeace: Wie ist die Situation in Manaus?

Thomas Gernot: Die Lage ist katastrophal. Die Stadt hatte am 5. Mai offiziell 10.000 Infizierte und 800 Tote. Zurzeit sterben täglich rund 100 Menschen in Manaus an dem Virus, und dauernd gibt es neue Rekorde. Dabei ist die Dunkelziffer nicht zu überschauen, denn in den Armenvierteln sterben viele einfach zu Hause, und die Todesursache wird nie geklärt. Fakt ist, dass die Sterberate in Manaus derzeit dreimal so hoch ist wie normalerweise. Anhand dieser Übersterblichkeit, die übrigens in ganz Brasilien zu beobachten ist, gehen Ärzte davon aus, dass im Land nicht nur - wie offiziell benannt - 8500 Menschen an Covid-19 gestorben sind, sondern rund 170 Prozent mehr. Was bedeuten würde, dem Virus wären bereits rund 23.000 Menschen in Brasilien erlegen. Die Zahlen sind vom 6. Mai. Und eigentlich geht die Pandemie in Brasilien jetzt erst los. Das Land ist momentan an einem Punkt der Ausbreitung, an dem Europa vor zwei Monaten stand. 

In Manaus ist das Gesundheitssystem mit Corona einfach kollabiert. Es war schon vor der Corona-Krise marode. Die öffentlichen Gesundheitsposten, SUS genannt, einst beispielhaft in ganz Lateinamerika für eine Gesundheitsversorgung auch in den Armenvierteln des Landes, sind schon seit Jahren immer weiter weggekürzt und eingespart worden. Außerdem ist Manaus eine Boom-Stadt: Menschen aus ganz Brasilien ziehen schneller in die Armenviertel am Stadtrand, in die Favelas, als die Infrastruktur oder Krankenhäuser mitwachsen können. Zudem liegt Manaus wie eine Insel mitten im Urwald: jedes Medikament, jedes Beatmungsgerät muss eingeflogen oder per Schiff gebracht werden.

Das Schlimme ist, dass die Menschen in den Armenvierteln ja nicht nur von Corona besonders hart getroffen werden. Sondern auch von den Maßnahmen zum Schutz gegen die Pandemie: Viele der unteren Bevölkerungsschichten sind Tagelöhner, die sofort kein Geld für Essen mehr haben, wenn sie nicht arbeiten dürfen oder können.

 

Warum breitet sich die Krankheit in Brasilien so besonders stark aus?

Da kommen mehrere Faktoren zusammen: Zum einen sind die Brasilianer ein Volk, das sich gern berührt, umarmt, ganz dicht und körperlich ist. Zwei Meter Abstand zu halten ist so gar nicht ihre Art. In den Armenvierteln ist es besonders schwer: Dort leben die Menschen dicht an dicht. Wenn sechs oder mehr Menschen in einer winzigen Holzhütte leben, können sie keinen Abstand zu ihren erkrankten Familienmitgliedern halten.

Außerdem gibt es in Brasilien zwei Meinungsführer, die das Virus verharmlosen und Maßnahmen gegen die Ausbreitung verdammen: der Präsident Jair Bolsonaro und die evangelikalen Kirchen. Bolsonaro sagt öffentlich, dass Corona eine kleine Grippe sei, er jegliche Maßnahmen für übertrieben und wirtschaftsfeindlich hält und Brasilianer die Krankheit eh nicht bekämen, da sie auch in dreckigen Kanälen baden könnten, ohne krank zu werden. Da er sehr viele Anhänger hat, die ihm blind glauben, halten sich sehr viele Menschen nicht an irgendwelche Schutzmaßnahmen. Es gibt Menschenmassen ohne Masken auf den Straßen, als gäbe es keine Pandemie.

Und die andere mächtige Kraft, die dem Virus in die Hände arbeitet, sind die vielen evangelikalen Kirchen. Die Prediger erklären, das Corona-Virus sei ein Werk des Teufels, dem man mit Massenbesuchen in Gottesdiensten und inbrünstigem gemeinsamen Beten – natürlich ohne Maske – begegnen müsse. Und die Menschen folgen in Scharen.

Gibt es denn in Brasilien keine Ausgangsbeschränkungen, keinen Lock Down?

Doch. Entgegen der Bundesregierung haben die Gouverneure in einigen der 27 Bundesstaaten ja strenge Maßnahmen verhängt. Die werden momentan sogar verschärft. Was auch wieder die Armen der Ärmsten am Stärksten trifft. Ein Beispiel: Bauernmärkte sind in Manaus derzeit verboten. Das bedeutet, dass den Kleinbauern aus dem Umland das Einkommen wegbricht und der Stadtbevölkerung die Versorgung mit bezahlbaren Lebensmitteln. Die Waren in den Supermärkten sind hingegen zum Teil um das Dreifache teurer geworden. In den Armenvierteln – in Manaus besonders, aber im Prinzip in ganz Brasilien – steigt die Not und der pure Überlebenskampf ins Unvorstellbare. 

Schon deswegen halten sich manche Leute nicht an die Corona-Beschränkungen. Wenn dann noch Leichtsinnigkeit dazu kommt, weil die Menschen ihrem Präsidenten glauben, dass das Virus harmlos ist, oder gar nur eine verschwörerische Erfindung der Medien, dann ist der Ausbreitung Tür und Tor geöffnet. Es gibt bereits Studien, die belegen, dass in Städten mit hohem Anteil an Bolsonaro-Unterstützern 40 Prozent mehr Coronafälle auftreten als in anderen Städten.

Aber die Infektions- und Todeszahlen, die Bilder mit den Massengräbern aus Manaus – rütteln die nicht auch die Brasilianer wach?

Brasilien ist ein tief gespaltenes Land. Es gibt die Menschen, die der internationalen Presse glauben, den Wissenschaftlern, den Zahlen, und die große Angst vor dem Virus haben. Und dann gibt es die Bolsonaristen. Wenn Fakten zur Glaubensfrage werden, wenn Präsidenten und Kirchen willkürlich Blödsinn behaupten, dann gibt es keine Wahrheit mehr. Ich erlebe leider immer wieder, wie mir Menschen sagen, die Zahlen seien doch alle nur erfunden, Propaganda, um Bolsonaro zu schaden. Es ist absurd und schrecklich.

Es gibt ja auch Politiker aus den eigenen Reihen, die sich gegen ihn stellen. Gerät Bolsonaro nicht politisch unter Druck?

Ja, Brasilien steckt in einer ausgewachsenen politischen Krise, sogar am Rande einer Verfassungskrise. Etliche der Gouverneure der Bundesländer, die Bolsonaro jetzt bekriegt, weil sie strenge Corona-Maßnahmen verhängen, waren mal seine Verbündeten. Sein eigener Gesundheitsminister Luiz Mandetta musste gehen, weil er strenge Corona-Maßnahmen befürwortet hat und sich an die Empfehlungen der WHO halten wollte. Ein weiterer mächtiger und sehr populärer Verbündeter, Justizminister Sergio Moro, trat soeben unter Protest zurück und erhob schwerste Korruptionsvorwürfe gegen Bolsonaro und seine mafiöse Familie. Ein Amtsenthebungsverfahren könnte die Folge sein.

Welche Rolle spielt in Brasilien das Militär?

Das ist eine gute und gar nicht einfach zu beantwortende Frage. Brasilien hat von 1964 bis 1985 eine grausame Militärdiktatur gehabt, die aber im Bewusstsein der Bevölkerung gar nicht als schlimm verankert ist, da die Verbrechen dieser Ära niemals aufgearbeitet wurden. Bolsonaro hat immer offen für eine Rückkehr zur Militärdiktatur geworben, hat sein Kabinett ja auch mit neun Militärs besetzt

Aber Bolsonaros fahrlässiger Umgang mit der Corona-Pandemie scheint selbst Militärgenerälen zu weit zu gehen. Jedenfalls haben sie versucht, den Gesundheitsminister Mandetta gegen Bolsonaros Willen im Amt zu halten. Demonstrationen, die zu einer Absetzung der Gouverneure durch das Militär aufrufen – was Bolsonaro offen unterstützt – wurden vom Militär brüsk zurückgewiesen.

Es scheint eine obere Schicht hoher Militärs zu geben, die momentan demokratischer denkt als ihr Präsident. So absurd es vor dem Hintergrund der grauenvollen Militärdiktatur klingt: Aber im Moment könnten demokratisch und wissenschaftlich begründet operierende Militärs Brasilien eventuell vor dem Schlimmsten bewahren. So wurde Bolsonaro ja schon quasi entmachtet und ihm ein mächtiger Kabinettschef, der General Walter Braga Netto vor die Nase gesetzt. Der ist ein intelligenter und vernünftiger Mensch. Auch der Vizepräsident, ebenfalls ein General, gilt als besonnen.

Das Problem ist, dass niemand weiß, wie tief die demokratische Gesinnung in die Tiefe und Breite des brasilianischen Militärs eingedrungen ist, und wie viele mittlere Offiziere nicht sofort mit Bolsonaro eine Militärdiktatur errichten würden. Und die Unterstützung eines Großteils der Bevölkerung ist Bolsonaro ja nach wie vor sicher.

Weißt du, wie die Situation unter den indigenen Völkern aussieht? Wie stark sind sie vom Virus betroffen?

Für die indigenen Völker rechnen wir mit schlimmen Szenarien. Ihr Immunsystem ist extrem anfällig für eingeschleppte Krankheiten. Auf der anderen Seite gibt es in ihren abgeschiedenen Dörfern fast keine Gesundheitsversorgung. Und da – mit Billigung, ja sogar Unterstützung der Regierung Bolsonaro – Holzfäller und Goldsucher immer tiefer in den Regenwald eindringen, sind sie leider mehr mit der restlichen Bevölkerung in Kontakt als gut für sie ist. 

Bekannt ist, dass beispielsweise unter den Yanomami bereits Corona-Tote aufgetreten sind. Aber ansonsten ist die Lage unübersichtlich, da keiner weiß, wie viele Menschen gerade aus welchem Volk sterben und woran. Die Indigenen stehen extrem unter Druck, zu einer feindseligen Bevölkerung und einer sie aktiv bekämpfenden Regierung kommt nun die Pandemie hinzu.

In vielen Teilen der Welt hat der Shut-Down ja zu einer Entlastung der Natur geführt. So ist in Industriegebieten Chinas die Luft viel sauberer geworden und in Venedig und Istanbul tauchen plötzlich wieder Delfine auf. Wie wirkt sich Corona auf die Umwelt in Brasilien aus, was bedeutet der Shut-Down für den Regenwald?

Leider keinerlei Entlastung, im Gegenteil. Während der Pandemie hat die Zerstörung des Regenwaldes sogar zugenommen. Eigentlich beginnt die Zeit der illegalen Brandrodungen erst mit der Trockenzeit im Juni und geht so bis September, Oktober. Aber dieses Jahr wird schon jetzt der Regenwald massiv gerodet. Warum? Weil Bolsonaro scheinheilig seinen Beamten wegen Corona verboten hat, Kontrollen zu fahren. Jüngst hat er sogar hohe Beamte der Naturschutzbehöde IBAMA entlassen, weil sie Einsätze gegen illegale Goldsucher durchgeführt haben.

Die Landräuber haben also freie Bahn, und das mit Ansage, und das nutzen sie auch jetzt im Zuge der Corona-Krise schamlos aus.  Bolsonaro hat ja dem Schutz des Regenwaldes und dem Leben der Indigenen den Kampf angesagt. Momentan steht im Kongress ein Gesetz zur Abstimmung, das Landraub und die Invasion in Indigenen-Territorien legalisieren würde. Bolsonaro will es im Schatten der Corona-Wirren durchboxen. Für das Überleben der indigenen Völker ebenso wie für den Schutz des Regenwaldes schaut es ganz schlimm aus. Es ist eine Doppeltragödie: Corona und Bolsonaro. Ich ende nicht gerne so düster – aber es ist wirklich gerade entsetzlich in Brasilien.

Sie wollen helfen? Diese Hilfs-Organisationen unterstützen verarmte Familien in Brasilien und Manaus mit Lebensmittel:

https://www.acaodacidadania.com.br/

https://www.vakinha.com.br/vaquinha/rede-de-apoio-as-maes-e-trabalhadoras-informais

Weitere Informationen zu dem Thema:

Demokratietest für Brasiliens Militär - Beintrag in der Deutschen Welle

Wie Bolsonaro an die Macht kommen konnte -Analyse von Thomas Gernot im österreichischen Magazin Kontrast

Datum
Protest in front of Ikea Store in Wallau

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