Warum Postwachstums-Ökonomie? Ein Interview mit Nina Treu
- Im Gespräch
Ohne Wachstum kein Wohlstand? Falsch, sagt Postwachstumsökonomin und Mitbegründerin des Konzeptwerk Neue Ökonomie Nina Treu. Wahrer Wohlstand liegt in der Zeit, die wir selbstbestimmt verbringen. Im Interview mit Thomas Merten vom Greenpeace Magazin erklärt sie, wie alle mehr davon haben können – und nebenbei die Wirtschaft gesundschrumpft.
Erstveröffentlichung
im Greenpeace Magazin
Das Interview ist im Januar 2021 im Greenpeace Magazin erschienen. Von Februar bis Oktober 2023 war Nina Treu Geschäftsführerin bei Greenpeace Deutschland.
Frau Treu, angenommen, Sie würden eine Million Euro im Lotto gewinnen. Was würden Sie damit tun?
Ich brauche so viel Geld nicht, und ich möchte nicht allein entscheiden, was damit passieren soll. Daher würde ich es dem Konzeptwerk überlassen, unserer Denkfabrik. Wir würden damit unsere Arbeit finanzieren und einen Teil an Menschen spenden, die es dringender brauchen.
Sie gönnen sich also keinen Luxus?
Ich lebe schon im Luxus: Ich trinke Kaffee, esse Schokolade, trinke gern mal Alkohol und fahre in den Urlaub, zuletzt mit dem Zug in die Bretagne. Doch ich könnte auch ohne all das leben. Alles eine Frage des Maßes und wie gerecht es verteilt ist.
Haben Sie dafür ein Beispiel?
Es wäre doch prima, wenn jeder Mensch ein Smartphone hätte, digitale Teilhabe ist ein Grundbedürfnis. Die Bereitstellung von Smartphones, Strom und Netz sollte genauso Teil eines wirtschaftspolitischen Programms sein wie der Zugang zu Trinkwasser. Ich selbst habe mein Gerät schon ewig und aktualisiere nur gelegentlich die freie Software – wäre das der Standard, bräuchten wir weniger Rohstoffe, die unter schlimmen Bedingungen im globalen Süden abgebaut werden.
Sie haben das Konzeptwerk 2011 mitgegründet. Warum noch eine Denkfabrik?
Meine Freunde und ich haben damals Politik in Heidelberg studiert und uns unter anderem gegen Studiengebühren und für Klimagerechtigkeit eingesetzt. Dann brach die Finanzkrise aus und wir fragten uns, wie eine zukunftsfähige Wirtschaft aussehen kann. Viele Bewegungen beließen es bei antineoliberalen Parolen, Umweltorganisationen fokussierten sich fast nur auf die Ökologie – wir aber wollen machbare Ideen entwickeln, die Soziales und Ökologisches zusammendenken.
Ihre Maxime ist das Postwachstum. Wie würden Sie das Konzept jemandem erklären, der davon noch nie gehört hat?
Die Produktion von Dingen basiert darauf, der Erde Ressourcen zu entziehen. Über den steigenden Absatz bemisst sich unser Wirtschaftswachstum. Leider leben wir auf einem endlichen Planeten mit begrenzten Ressourcen – unendliches Wachstum wäre also nur möglich, wenn wir es ohne zusätzlichen Materialaufwand erreichen könnten. Und weil das nicht geht, muss die Wirtschaft auf das Wesentliche schrumpfen.
Was ist denn das Wesentliche?
Das bestimmen wir demokratisch. Eine Gesundheitsversorgung etwa, die für alle kostenlos und gleich zugänglich ist – und vielleicht nicht das dritte Einkaufszentrum im Umkreis.
Inspiriert wurden Sie schon auf einem Schüleraustausch in den USA, wo Sie eine starke Konsumkultur erlebten.
Als Mädchen vom oberbayerischen Land hatte ich ein idealisiertes Bild von den USA: unbegrenzte Möglichkeiten, Wohlstand für alle, technologischer Fortschritt. Die Realität im Mittleren Westen in Indianapolis war anders: einerseits eine starke Teilung zwischen armen und reichen Vierteln, marode Schulen, Menschen, die sich für ihre Bildung verschulden, andererseits riesige Supermärkte, fast nur Autoverkehr, Warenüberfluss und Fastfoodketten.
Aber hängt das Wohl der Wirtschaft und der Menschen nicht am Wachstum?
Das halte ich für eine schwierige Vermischung des positiv konnotierten Wortes „Wachstum“ – das einen als Menschen reicher macht, auch an Erfahrungen – mit dem, was das Bruttoinlandsprodukt steigen lässt. Selbst ein tragischer Autounfall führt zu Wirtschaftswachstum, wenn Menschen ins Krankenhaus müssen und das Auto repariert oder neu gekauft wird. Aufschlussreich ist da der Nationale Wohlfahrtsindex, der etwa Einkommensverteilung, Gesundheit, Bildung, Pflege- und Erziehungsarbeit sowie die Umweltbelastung berücksichtigt. Vergleicht man die Kurven, zeigt sich, dass ein steigendes BIP nicht zwangsläufig zu mehr Lebensqualität führt.
Es gibt doch angeblich auch grünes Wachstum, mit dem wir sogar Klima- und Umweltschutz vorantreiben.
Sie meinen, dass Ressourcenverbrauch und CO2-Ausstoß vom Wachstum entkoppelt werden können, wie es etwa die verschiedenen „Green Deals“ von Ursula von der Leyen, Bernie Sanders oder Yanis Varoufakis mal mehr, mal weniger ambitioniert verfolgen? Unwahrscheinlich. Das bedeutet immer, schmutzige Prozesse in andere Länder auszulagern. Zuletzt belegte das 2019 eine Studie, an der auch die London School of Economics beteiligt war. Effizienzgewinne haben oft sogar einen steigenden Verbrauch zur Folge. Automotoren zum Beispiel sind zwar heute viel effizienter, dafür werden immer stärkere und schwerere Fahrzeuge gebaut.
Würde nicht das System zusammenbrechen, wenn alle weniger konsumieren?
Klar, der private Konsum macht die Hälfte des BIP aus. Das merken wir in der Coronakrise: Da kaufen alle ein paar Wochen lang nur das Nötigste, schon müssen Milliarden Euro die Wirtschaft retten und die Mehrwertsteuer runter, um den Konsum anzukurbeln. Würden die Leute im ganzen Jahr 2020 so wenig ausgeben wie in den ersten Monaten der Pandemie, würde das BIP schrumpfen – eine Rezession.
Freut man sich als Postwachstumsökonomin über solche Konjunktureinbrüche?
Nein, weil das nicht der Umbau ist, den wir fordern. Die Krise trifft ja eher die Menschen, die ohnehin wenig haben, während einige Reiche sogar Profite einfahren, wie zum Beispiel Amazon-Gründer Jeff Bezos.
Würde uns Postwachstum nicht wie harter Verzicht vorkommen?
Es soll nicht für alle weniger geben, sondern für alle genug. Den oberen und mittleren Schichten käme es wie ein Verlust vor. Aber Menschen, denen es gerade schlecht geht, hätten durch Umverteilung am Ende deutlich mehr.
Und wie überzeugt man die Reichen vom Teilen?
Unsichere Verhältnisse und die Klimakrise beunruhigen ja nicht nur die Ärmeren. Die meisten Menschen wünschen sich eine stabile Gesellschaft. Und persönliches Glück hängt ja nicht nur am Materiellen. Schauen Sie sich die ganzen Aussteigerbücher von ehemaligen Finanzmanagern an – die fanden ihre Mühle grausam. Aber natürlich wird es Menschen geben, die nicht freiwillig abgeben. Für die gibt es Politik, die umverteilt und die ihre Freiheit, wenn sie auf Kosten anderer geht, beschneiden muss. Auf Wohlstand muss aber niemand verzichten.
Was ist für Sie Wohlstand?
Natürlich gehört dazu eine gewisse materielle Geborgenheit, Essen, Wohnen, Kleidung, etwas Komfort. Darüber hinaus kommen andere Dinge oft viel zu kurz: ohne Sorgen zu leben zum Beispiel. Die meisten von uns, vor allem die, die wir als wohlhabend bezeichnen würden, beklagen, dass sie gern mehr Zeit mit Menschen verbringen würden, die ihnen wichtig sind – oder gern mehr Zeit für sich selbst hätten, für Muße. Das alles hätten wir, wenn wir aus dem Hamsterrad ausstiegen. Wir haben dafür einen Begriff: Zeitwohlstand.
Das müssen Sie näher erklären.
Wenn wir neue Dinge kaufen, seien es Tablets, Streaming-Abos oder Kleidung, nimmt die Zeit ab, die wir den einzelnen Sachen widmen können, um sie auszukosten – weil wir im Leben eben nur begrenzt Zeit haben und einen großen Teil für den Unterhalt oder die Anschaffung weiterer Dinge einsetzen. Die Idee des Zeitwohlstands ist, Zeit als eigentlichen Reichtum zu betrachten: Statt für die Erfüllung unnötiger materieller Wünsche unter Stress zu arbeiten oder mühsam das eigene Auskommen sichern zu müssen, erhalten alle mehr freie Zeit, über die sie verfügen können.
Viele mögen es doch aber so. Shoppen ist laut der Allensbacher Markt- und Werbeträgeranalyse noch vor Fotografieren und Gärtnern das beliebteste Hobby der Deutschen.
Das bestätigt doch nur, dass zu viel Konsum die Freude am Neuen verringert, die wir wiederum durch den Kauf von noch mehr Dingen zu erlangen versuchen. Werbung und Politik liefern uns Anreize zum Überkonsum, obwohl wir gar nicht die Zeit dafür haben. Zeitwohlstand heißt auch, dass dieses Verhältnis stimmt.
Wie findet man das richtige Maß?
Gehen Sie die Gegenstände und Dienstleistungen durch, die Sie im vergangenen Monat gekauft haben, und gleichen Sie ab, wie viel Aufmerksamkeit Sie ihnen schenken. Wie viel liegt die meiste Zeit nur herum? So merkt man schnell, dass weniger Shoppen reicht.
Ein direkter Wechsel zum Postwachstum wäre eine heftige Zäsur. Welche ersten Schritte schlagen Sie vor?
Zunächst würden wir uns darauf einigen, die Lohnarbeitszeit zu verkürzen, erst auf dreißig, dann bis auf zwanzig Stunden, gern erst mal freiwillig, mit Lohnausgleich.
Derzeit sieht es nicht danach aus, als würde sich das durchsetzen, nicht einmal die Vier-Tage-Woche. Im Gegenteil, das Rentenalter steigt. Warum?
Im Jahr 1930 rechnete der britische Ökonom John Maynard Keynes anhand der damaligen Produktivitätssteigerung hoch, dass wir hundert Jahre später nur noch 15 Stunden pro Woche arbeiten müssten. Doch Effizienz und Automatisierung wurden nur für mehr Profit genutzt. Wir verlieren das Gefühl, wie viel Arbeit wirklich nötig ist, und erfinden ständig neue Bedürfnisse und Berufe.
Einige arbeiten auch einfach gern viel.
Ja – wenn sie selbstgewählte und erfüllende Jobs haben. Das sollen sie auch weiterhin können, es geht nur um die Arbeitszeit, die für den Lebensunterhalt nötig ist. Wir sollten aufhören, bei Arbeit nur an die Lohnarbeit zu denken. Dazu gehören doch auch Tätigkeiten, die viele privat leisten, wie Sorge für Kinder und alte Menschen, die vor allem Frauen übernehmen, Ehrenämter und demokratische Mitbestimmung.
Was ist mit den Menschen, die Freude am Anhäufen von Besitz haben?
Oft steckt ein Sicherheitsbedürfnis dahinter: Die Vorsorge fürs Alter oder dass es den Kindern gut gehen soll. Studien zu relativem Glück zeigen, dass Menschen mit weniger zufrieden sind, wenn auch die meisten anderen um sie herum weniger haben. Und Stolz und Anerkennung für Leistung kann sich auch anders ausdrücken als in Geld, etwa im kooperativen Miteinander, persönlicher Wertschätzung, in mehr freier Zeit.
Wie sähe das Leben in einer Postwachstumsgesellschaft aus?
Ein wenig so wie Urlaub in der eigenen Stadt. Es würde zwar einen Arbeitsrhythmus geben, gerade bei systemrelevanten Berufen, aber keine Rushhour. Die Menschen würden sich mehr im Alltag begegnen. Und in Supermärkten und Kaufhäusern stünden nicht mehr zig Varianten der gleichen Produkte in den Regalen.
Aber Auswahl ist doch toll!
Zwanzig Sorten meist unfair gehandelten Kaffee braucht doch keiner. Dafür läuft die Wirtschaft gerechter, lokaler und regionaler, das Essen ist saisonaler, globale Lieferketten gäbe es nur, wenn es allen nützt, auch Beteiligten im globalen Süden.
Und was sollen wir mit all der Freizeit anstellen?
Na, unseren ehrlichen Interessen nachgehen. Familie und Freunde treffen, Ausflüge in der Natur, Sport treiben, lesen, sich weiterbilden oder einfach nur ausruhen. Wir müssten die Vermögen deckeln, sie durch Vermögens und Erbschaftssteuer umverteilen und die Industrieproduktion verringern. Wir werden bald ohnehin nicht mehr so viele Autos bauen können, weil es ökologisch nicht haltbar ist. Und wir sollten das Geld überdenken.
Das wollen Sie auch abschaffen?
Wenigstens seine negativen Effekte eingrenzen – durch weltweite Entschuldung, Abschaffung von Steueroasen, Kapitalverkehrskontrollen. Außerdem sollten Projekte gefördert werden, die weniger oder gar nicht vom Geld abhängen, wie zum Beispiel solidarische Landwirtschaft.
Und wie bekommt man die menschliche Gier in den Griff?
Indem wir gemeinschaftliche Denkweisen begünstigen. Momentan ist es doch erstaunlich, wie viele Menschen Gutes für andere tun, obwohl sich das finanziell nicht lohnt und kaum gewürdigt wird.
Was war denn Ihr letzter Fehlkauf?
Ich kaufe immer mal wieder Bücher, die ich niemals lese, und besitze zu viele Schuhe, die ich fast nie trage.