Reisetagebuch: 20 Tage mit Greenpeace in der Ukraine
- Ein Artikel von Mattea Weihe
- Unterwegs
Ein Greenpeace-Team war 20 Tage lang auf den Spuren der Radioaktivität in der Ukraine. Hier berichten fünf von ihnen, was sie vor Ort erlebt haben.
Im Oktober und November 2023 war ein Greenpeace-Team 20 Tage lang in der Ukraine unterwegs. Sie haben den Ort der weltweit schlimmsten nuklearen Katastrophe in Tschornobyl im Norden der Ukraine besucht und sind in die südliche Region in der Nähe von Saporischschja gereist, wo die nächste nukleare Katastrophe drohen könnte. Dort haben sie Strahlungssensoren aufgestellt, um im Falle einer nuklearen Katastrophe rechtzeitig Stahlungswerte bereitzustellen.
Fünf Mitglieder des Greenpeace-Teams haben abwechselnd ihre Erlebnisse in einem Tagebuch festgehalten. Sie erzählen von Begegnungen mit Grenzkontrollbeamt:innen, den gespenstischen Straßen von Kyiv während der Ausgangssperre, dem Mittagessen in der Kantine des Atomkraftwerks Tschornobyl oder dem Aufstellen von Sensoren im Süden der Ukraine. Während ihrer Zeit in der Ukraine haben sie viele bewegende Begegnungen mit den Menschen vor Ort erlebt, die Geschichten von Widerstandsfähigkeit, Hoffnung und Ausdauer geteilt haben.
Tagebuch der Reise
Sonntag, 29. 10. / Auf dem Weg von Lublin nach Kyiv / Tobias Muenchmeyer
Es ist ein sonniger Morgen am Lubliner Busbahnhof. Mai aus Japan, Anne aus Frankreich, Jan aus Belgien, Shaun aus Schottland und ich trinken große Tassen Kaffee - aber das hilft auch nicht: Wir sind müde, bevor unsere Reise beginnt, nach wochenlangen Vorbereitungen, Erste-Hilfe-Trainings und Schulungen, wie man einen Druckverband anlegt und schwere Verletzungen verbindet.
Die ukrainische Grenzkontrolle nimmt viel Zeit in Anspruch. Die Beamt:innen sind fasziniert von unserem 40 kg schweren "Quant" aus Blei - einem Gerät, das wie eine überdimensionale Salatschüssel aussieht und radioaktive Proben misst. Immer wieder öffnen wir unseren Koffer - klick, klick - und immer mehr Beamt:innen versammeln sich um uns, kratzen sich am Kopf und diskutieren, wie sie damit umgehen sollen.
Plötzlich wird unser Fahrer wütend: "Mein Beifahrer ist verschwunden". Er weigert sich, allein zu fahren. "Wie kann er 'verschwunden' sein?" frage ich. "Er ist nicht mehr da", antwortet er. Dann folgt endloses Warten. Aber immerhin gibt es Cappuccino in schottischen Tartan-Pappbechern, Gebäck und Eiscreme. Eigentlich sollten wir um 22 Uhr in Kyiv ankommen, aber wir sitzen am Grenzübergang fest. Und schon droht das nächste, viel größere Problem: Die kriegsbedingte Ausgangssperre in Kyiv, von Mitternacht bis 5 Uhr morgens. Wir machen uns langsam Sorgen. Was, wenn wir es nicht rechtzeitig nach Kyiv schaffen? Wir rufen unsere Kollegin Polina an - sie ist eine echte Troubleshooterin.
Montag, 30. 10. / Kyiv / Tobias Muenchmeyer
Plötzlich taucht der Beifahrer wieder auf. So geheimnisvoll, wie er verschwunden war. Einige Fahrgäste tuscheln über "nicht ordnungsgemäße Papiere". Mit fünf Stunden Verspätung fahren wir weiter. Unsere Fahrer fahren mit Vollgas durch die ukrainische Nacht. Die Straßen sind leer und am scheinbar endlosen Himmel über uns scheint der Vollmond. Die Einfahrt nach Kyiv um 3 Uhr morgens ist gespenstisch. Eine graue und dunkle Stadt. Soldat:innen mit Kalaschnikows an brennenden Fässern und massive Panzersperren versperren die Straßen. Zwar ist dies das Ende unserer Reise, aber noch sind wir 20 km von unserem Hotel entfernt. Ein sehr junger Soldat kommt auf uns zu, aber er ist zu schüchtern, um zu erklären, was er will: Will er uns helfen? Zigaretten? Ich überlege, ob ich ihm auf Russisch antworten soll, weil ich kein Ukrainisch spreche. Nachdem ich es auf Englisch, Deutsch und sogar Französisch versucht habe, frage ich ihn auf Russisch - und er lächelt. Besser, man versteht Russisch, als dass man gar nichts versteht.
Und dort, im vorbeifahrenden Auto? Ist das nicht Polina, die winkt? Vor ihrem Auto fährt ein Polizeiauto. Wir können es nicht fassen: Sie hat eine spezielle Polizeieskorte organisiert, die uns durch die leere Stadt zu unserem Hotel begleitet. Was für eine Begrüßung in Kyiv um 3:30 Uhr morgens.
Dienstag, 31.10. / Tschornobyl / Jan Vande Putte
Heute ist unser erster Tag in der Sperrzone von Tschornobyl. Wir verlassen das Hotel in Kyiv am Morgen mit Autos voller Ausrüstung: Material, das uns bei der Arbeit in der kontaminierten Zone schützen soll, dazu gehört eine Reihe von Messgeräten. Je näher wir an Tschornobyl kommen, desto dünner besiedelt ist das Gebiet, die Zahl der Kontrollpunkte nimmt zu und desto beschädigter sind die Straßen. Um in die Sperrzone zu gelangen, brauchen wir eine Sondergenehmigung der ukrainischen Regierung. Die Sperrzone ist nicht nur seit der Nuklearkatastrophe von 1986 verseucht, sondern ist heute auch ein militärisch sensibles Gebiet: Wir befinden uns in der Nähe der belarussischen Grenze, von der aus am 24. Februar letzten Jahres die russische Invasion in Richtung Kyiv begann.
In Tschornobyl treffen wir uns mit dem Direktor des EcoCenters, Serhii Kiriiev. Seit 1986 arbeitet er in der Zone und leitet heute die wissenschaftliche Arbeit zur Kontamination des Gebiets. 2600 km2 - eine riesige Fläche. Die russische Invasion hat die Bewirtschaftung dieses Gebiets gestört, die Soldat:innen haben Geräte geplündert und mutwillig zerstört, Gräben in den verseuchten Boden gegraben sowie hunderte von Panzern und schweren Militärfahrzeugen durch das Gebiet gefahren. Als sie von der ukrainischen Armee nach Belarus zurückgedrängt wurden, legten sie Minen. Seitdem sind vor allem Antipersonenminen zu einem großen Problem geworden, weil sie den Zugang zu dem Gebiet schwierig und gefährlich machen.
Mittwoch, 1. 11. / Tschornobyl / Jan Vande Putte
Heute Morgen besuchen wir die Labore des EcoCenters. Vor dem Krieg analysierten sie Tausende von Proben pro Jahr, aber im letzten Jahr war das unmöglich. Jetzt bauen sie ihre Kapazitäten wieder auf. Als wir die Labore im Juli letzten Jahres besuchten, kurz nachdem die russischen Truppen abgezogen waren, war die Situation dramatisch: Die Labore waren verwüstet, die Computer kaputt und die Geräte gestohlen. Es gab nicht einmal einen Drucker. Im Laufe des letzten Jahres wurde vieles wiederhergestellt, aber einige Schäden an den Maschinen sind nur sehr schwer zu beheben. Am interessantesten sind für uns die "Schmutzräume", in denen radioaktiv verseuchte Proben verbrannt oder getrocknet und weiter behandelt werden, bevor sie analysiert werden. Es ist sehr aufregend zu sehen, dass ein solches Weltklasselabor eine sehr ähnliche Methodik wie unseres verfolgt, allerdings in einem völlig anderen Maßstab.
Donnerstag, 2. 11. / Tschornobyl / Jan Vande Putte
Heute nehmen wir mit Anton vom EcoCenter Proben im Kühlteich. Auf Grund der Trockenlegung des Kühlteichs seit 2014 sind 75 % des ursprünglichen Kühlteichs jetzt die meiste Zeit des Jahres trocken. Für jemanden, der hunderte von Bodenproben an kontaminierten Orten auf der ganzen Welt genommen hat, schaltet mein Gehirn automatisch um und konzentriert sich auf die Technik und die Protokolle. In der Natur sind viele Prozesse am Werk, die die Kontamination in tieferen Schichten des Bodens und in den Gewässern weit unten konzentriert haben: Wenn wir ein Sediment in unserem eigenen mobilen Labor analysieren, stellen wir eine relativ geringe Kontamination in den ersten 5 cm des Bodens fest, während die höchste Kontamination in der Schicht von 10-20 cm zu finden ist. Tschornobyl ist ein Ort extremer Widersprüche, überwältigender Schönheit und der größten Atomkatastrophe der Geschichte. Heute betrachte ich diesen Ort wie eine Art 3D-Modell und versuche, all die komplexen Prozesse besser zu verstehen...
Freitag, 3. 11. / Tschornobyl und Prypjat / Shaun Burnie
Nach mehreren Tagen Arbeit am Kühlteich beginnt heute der letzte ganze Tag des Teams in Tschornobyl mit einem Besuch der Gedenkwand für die ersten Opfer der Katastrophe von 1986 - die Ingenieur:innen und Arbeiter:innen, die in der Nacht des 26. April im Einsatz waren. Die Gedenkmauer steht gegenüber dem Eingang zur Arbeiter:innenkantine, wo wir bereits in den letzten Tagen zu Mittag gegessen haben. Obwohl ich kurz nach Beginn der Katastrophe von Tschornobyl 1986 in der Sowjetunion war und mich seit fast 40 Jahren mit Atomenergie beschäftige, habe ich in all dieser Zeit nie erwartet, irgendwann neben den Arbeiter:innen der Anlage in Tschornobyl zu sitzen und köstlichen Borschtsch zu essen. Es ist überwältigend hier zu sein und schlichtweg surreal, wenn Susanne Vega und die Hip-Hop-Version von Tom's Diner aus dem Soundsystem der Kantine ertönt. Während ich die Arbeiter:innen so beobachte, denke ich nach. Neben dem 26. April 1986 hat sich nun ein neues Datum in ihr Gedächtnis eingebrannt: Der 24. Februar 2022 - der erste Tag der groß angelegten Invasion der Ukraine, als russische Streitkräfte auf dem Weg nach Kyiv das Kernkraftwerk Tschornobyl angriffen und besetzten. Früher waren hier Tausende von Arbeiter:innen, heute sind es Hunderte, und es ist unmöglich, weiterzumachen wie zuvor. Ich empfinde tiefsten Respekt für diese Menschen.
Anschließend besuchen wir das nahe gelegene Prypjat, wo am 27. April 1986 fast 50.000 Menschen wegen der hohen Strahlungswerte aus dem brennenden Reaktorblock vier evakuiert wurden. Mitten in Prypjat zu stehen ist der perfekte Moment, um eine Botschaft an die russische Atomindustrie und den staatlichen russischen Atomkonzern Rosatom zu senden. Denn vom ersten Tag der Besetzung 2022 an waren Rosatom-Mitarbeiter:innen mit ihrem Militär auf dem Gelände von Tschornobyl. Mit unserem Transparent in Prypjat machen wir deutlich, dass Rosatom - wegen seiner direkten Rolle im russischen Krieg gegen die Ukraine - durch Sanktionen bestraft werden muss, um seine Atomgeschäfte im Ausland zu stoppen.
Samstag, 4. 11. / Tschornobyl / Tobias Muenchmeyer
Ich bin sehr früh aufgestanden, um meine Sachen zu packen und Tschornobyl nach vier intensiven Tagen zu verlassen. Zeit für einen Spaziergang vor dem Frühstück. Ich weiß nicht, warum ich mir ein Klavierkonzert von Chopin auf die Ohren gelegt habe. Mit der Musik verschwimmt plötzlich alles, was ich sehe. Ich laufe durch die kalte und trübe Morgenluft, während die Stadt noch schläft. Ein humpelnder Hund kommt auf mich zu und schnüffelt an meinem Rucksack. Ich würde gerne Hallo sagen, aber ich habe klare Anweisungen: "Vermeidet es, in der Tschornobyl-Zone irgendetwas anzufassen. Stellt euch vor, dass alles, was ihr seht, frisch gestrichen ist. Eure Aufgabe ist es, sauber und ohne Farbflecken nach Hause zu kommen!" Also gehe ich weg, aber die Augen des Hundes verfolgen mich.
Ich gehe die "Soviet Street" hinunter. Auf einem großen Schild an einem Haus steht "Ticket Office". Das Glas ist zerbrochen und die Zweige der dort gewachsenen Büsche ragen aus den Fenstern. Aber Tickets für was? Seit 37 Jahren wird hier kein Ticket mehr verkauft. Die einzige Eintrittskarte, die man in Tschornobyl bekommt, ist die für die innere 10-Kilometer-Zone um den explodierten Reaktor Nummer vier. Nicht hier, sondern am Kontrollpunkt in der 30-Kilometer-Zone. Es ist wirklich Zeit zu gehen... Ich habe die Nase voll von all den Minenwarnschildern, Strahlungsmesspunkten, Männern mit Kalaschnikows an den Kontrollpunkten, Panzern, Panzerattrappen und diesem ganzen Dschungel von Gedenkstätten. Die Gedenkstätten, zu denen fast niemand Zutritt hat, sind Ausdruck der Hilflosigkeit und Einsamkeit der Überlebenden der verschiedenen Katastrophen, die sich in diesem trügerisch schönen und scheinbar unschuldigen Kosmos ereignet haben.
Sonntag, 5. 11. / Kyiv / Tobias Muenchmeyer
Wenn man aus Tschornobyl zurückkehrt, fühlt man sich schmutzig. "Werde wieder sauber!", schallt es in meinem Kopf. Zurück in Kyiv nahm ich eine heiße Dusche, dann ein Bad, gab alle meine Kleider in die Wäscherei und schlief für lange Zeit. Frühstück in sauberen Klamotten mit normalen Hotelgästen ohne Militärkleidung, frischer Kaffee, Porridge mit Honig, Bliny, Croissants - zurück ins Leben!
Nach dem Frühstück genieße ich einen Spaziergang im Stadtzentrum. Ich gehe um den Bessarabskiy Markt herum in Richtung Khreshchatyk, die Champs Elysées von Kyiv. Leute, die einen Sonntagsspaziergang am späten Vormittag genießen, kleine Gruppen, junge Paare. Ich spaziere unter den berühmten Kastanienbäumen, die den Weg mit ihren goldenen Blättern pflastern, und komme am Rathaus von Vitaliy Klichko vorbei. Genau hier habe ich 1995 und 1996 gelebt, und jeder Ort ist für mich mit Erinnerungen verbunden.
Später treffe ich in einem Cefé Denys, einen Hydrologen aus Kyiv, der in Tschornobyl ein Labor hat. Ich frage ihn nach der Zeit, als Tschornobyl von der russischen Armee besetzt war. Er sagt: "Es war seltsam, sie haben mein Büro verwüstet, aber als ich es aufräumte, stellte ich fest, dass keine Festplatte, keine Dokumente, kein wissenschaftliches Buch fehlte. Das Einzige, was sie mitgenommen haben, war mein Lieblingsbuch: die Autobiographie von Keith Richards". Er fügt mit einem bitteren Lächeln hinzu: "Du musst wissen: Ich bin ein großer Stones-Fan." Und ich frage mich, bei wem dieses Buch jetzt ist, ob er noch lebt, ob er geglaubt hat, was ihm die russische Propaganda erzählt hat, oder ob er gegen Putin protestiert hat, als das noch möglich war.
Montag, 6. 11. / Auf dem Weg / Dnipro / Shaun Burnie
Wir verlassen Kyiv in südöstliche Richtung und folgen dem Fluss Dnipro. Wir haben uns von der Strahlenspezialistin Mai aus Japan verabschiedet, und Christian, unser Video- und Fotograf, hat sich zu uns gesellt. Vor mehr als 20 Jahren haben wir zum ersten Mal zusammengearbeitet und gemeinsam mit Mai und Jan viele Jahre in den kontaminierten Gebieten der Präfektur Fukushima in Japan verbracht.
Zwischen Gesprächen und dem Starren auf einen Computerbildschirm nutze ich die Gelegenheit, durch das Fenster zu schauen: Ich sehe die endlosen flachen Felder mit schwarzer, sehr schwarzer Erde. Die Wintersonne steht tief, und es ist schwer, die sterbenden Stängel der Sonnenblumenernte des letzten Sommers zu erkennen, die in dem schwarzen Boden wachsen, der zu den fruchtbarsten der Welt gehört. Der erstaunlichste und produktivste Boden - oder Tschernosem - konnte die Millionen ukrainischer Menschen, die der Hungersnot von 1931 zum Opfer fielen, bis 1934 nicht retten. Damals war der Holomodor die Folge der sowjetischen Politiker:innen, die nicht in der Lage waren, ihre verheerende Politik einzugestehen. Auf jeder Reise, überall, bewegt man sich durch die Geschichte, aber in der Ukraine spürt man sie mehr als irgendwo sonst, wo ich je gewesen bin.
Dienstag, 7. 11. / Saporischschja / Polina Kolodiazhna
Wir sind auf dem Weg nach Saporischschja, um dort an einem Krankenhaus Sensoren zu installieren. Vor der Reise war ich ein wenig nervös wegen der Gefahren, die dort auf uns warten könnten. Wir kommen schnell und sicher voran, so dass wir es rechtzeitig zu unserem ersten Treffen mit dem stellvertretenden Leiter der Militärverwaltung der Region schaffen. Das Treffen ist interessant und ich merke, wie sehr ich es mag, neue Leute kennenzulernen. Dann treffen wir die Leiterin der Stadtverwaltung - eine sehr mutige junge Frau namens Olena. Sie hat kein richtiges Büro, weil sie aus Sicherheitsgründen ständig ihren Standort wechseln muss. Ihre Worte und Geschichten über den Widerstand haben mich sehr stolz auf die Ukrainer:innen gemacht, die trotz aller Widrigkeiten jeden Tag weitermachen.
Wir fahren mit dem Auto durch die Stadt. Ich dachte immer, dass Saporischschja eine Industriestadt mit verschmutzter Luft ist, aber stattdessen ist sie wunderschön - mit breiten Straßen und alten Gebäuden. Es tut weh, die Folgen der russischen Aggression hier in Saporischschja zu sehen - zerstörte Gebäude, beschädigte Infrastruktur und ein sehr niedriger Wasserstand im Fluss, nachdem der Kachowka-Damm zerstört wurde. Und dann besuche ich zum ersten Mal in meinem Leben die Insel Hortitsa - ein ganz besonderer Ort voller Energie, wo unsere Vorfahren, die ukrainischen Krieger Kozaki, vor Jahrhunderten lebten. Ich wollte schon vor dem russischen Angriff dorthin fahren, fand aber nie die Zeit dazu. Was für eine Ironie - jetzt sehe ich Hortitsa während die Luftalarme losgehen.
Im Abend verbringe ich viel Zeit damit, über all das nachzudenken, was ich heute und zuvor in anderen Regionen gesehen habe. All diese zerstörten Leben, zerstörten Kindheiten und Träume. Wie kann ich helfen? Wie kann ich etwas verändern und wo finde ich die Kräfte, um alle, die betroffen sind, zu unterstützen? Es heißt, dass derjenige, der seinen Weg geht, ihn auch meistern wird. Das ist es, was ich mir immer wieder sage, um weiterzumachen.
Mittwoch, 8. 11. / Unterwegs / Anne Pellichero
Nach zwei vollen Wochen fahren wir Richtung Landesinneres. Als wir frühmorgens unser letztes Treffen mit den Verwaltungsbeamt:innen verlassen, werden wir von Sirenen begrüßt. Ich erhalte mehrere Nachrichten von verschiedenen Quellen: Die Bedrohung durch ballistische Raketen in diesem Gebiet ist real. Wir befinden uns inmitten von Behörden und Militärgebäuden, daher ist es wichtig, dass wir schnell handeln.
Auch wenn ich die Ukraine gut kenne und viel gereist bin, gibt es doch immer wieder etwas Neues. In einem Konvoi von drei Autos zu reisen bedeutet, dass wir uns anpassen müssen: Die einen wollen einen Kaffee trinken oder eine Pause machen, die anderen halten sich lieber an den Zeitplan, den wir uns selbst gesetzt haben. Wir fahren an Dutzenden von Getreidesilos, endlosen Getreidefeldern und vollgepackten Zugwaggons vorbei. Die ukrainische Landschaft ist flach. Keine Berge, keine Hügel. Der Blick geht kilometerweit. Hier und da sehen wir Militärkonvois und ausgebrannte Autos am Straßenrand. Alles ist grau und kalt. Sechs Stunden lang gibt es nur uns und das Geräusch von Scheibenwischern. Mir kommt es vor, als wäre ich schon ewig mit meiner Kollegin Polina in diesem Auto. Uns als Frauen verbindet etwas, unsere Zukunftsvisionen, unsere Unsicherheiten und die tiefe Überzeugung, dass diese dunklen Zeiten mit viel Solidarität und ein bisschen Humor leichter zu überstehen sind. Gemeinsam.
Donnerstag, 9. 11. / Yuzhnoukrainsk / Polina Kolodiazhna
Der erste Halt in Yuzhnoukrainsk ist ein Treffen mit Vertreter:innen der Stadtverwaltung, bei dem sechs Frauen teilnehmen. Es fühlt sich an, als sei dies eine Stadt voller starker Frauen. Während des Gesprächs über ihre Erfahrungen während des Krieges wird mir bewusst, wie schwierig das für mich ist. Ich erinnere mich an dieses Gefühl absoluter Ungläubigkeit, als ich dachte, die Meldung von der groß angelegten Invasion sei ein schlechter Scherz. Man steht morgens auf der Straße und sieht Hunderte von Menschen mit Taschen und 5-Liter-Wasserflaschen zur U-Bahn gehen. Alle möglichen Gedanken, die Stadt zu verlassen oder sogar das Land zu verlassen, schießen mir durch den Kopf. Diese Frauen entscheiden sich, zu bleiben. Als Russland Voznesensk, eine Stadt 20 km von Yuzhnoukrainsk, besetzt, kommen sie alle zusammen. Einige von ihnen ziehen sogar ins Gemeindehaus, rufen ältere Menschen an, um vor Luftangriffen zu warnen, und leisten rund um die Uhr Hilfe.
Als wir an der örtlichen Schule ankommen, um einen Sensor zu installieren, treffen wir auf eine Gruppe sehr freundlicher Lehrer:innen und ihre Schulleiterin. Bei einer Tasse Kaffee sprechen wir mit ihr über ihre Verantwortung für so viele Kinder während des Krieges. Sie erzählt von dem Tag vor dem Krieg, als ältere Kinder sie nach ihrer Meinung zu einer möglichen russischen Invasion fragten. Sie antwortete, dass sie nicht glaube, dass so etwas jemals passieren werde. Als der Krieg am nächsten Tag begann, kamen sie zu ihr, sagten nichts und schauten sie einfach an. Mir kommen Tränen in die Augen, als ich diese Geschichte höre. Sie sagt: "In diesem Moment wurde mir klar, dass ich ihnen gegenüber gelogen habe und dass ich sie im Stich gelassen habe." Am Abend wird mir klar, dass ich diese Stadt, diese Frauen aus der Stadtverwaltung und besonders die Schulleiterin nie vergessen werde.
Freitag, 10. 11. / Odessa / Shaun Burnie
Odessa hat mich schon immer fasziniert. Wir betreten die Stadt mit einem straffen Zeitplan, gefüllt mit Treffen und der Installation eines Strahlungssensors in einer Stadt und Region, die täglich von russischen Raketen angegriffen wird. Wir sehen eine Stadt mit Boulevards, Bäumen und pastellfarbenen Gebäuden. Hinter der nächsten Ecke klafft plötzlich eine Lücke, wo früher einmal eines dieser Gebäude stand. Unser morgendliches Treffen mit regionalen Beamt:innen zog sich über drei Stunden hin, da wir den Bunkerraum wegen der Raketenwarnungen nicht verlassen konnten. Tee und Kuchen im Untergrund mit jungen Leuten - wie muss es sein, jeden Tag so zu leben, wenn die Normalität durch Alarme und Explosionen erschüttert wird?
Während wir nur wenige Schritte von der Potemkinschen Treppe entfernt sind, dem Schauplatz der berühmten Szene im Eisenstein-Film “Panzerkreuzer Potemkin” über die russische Meuterei von 1905, installiert ein Teil des Teams einen Strahlungssensor in einer Feuerwache, während die anderen eine Galerie für moderne Kunst zu besuchen. Die junge Kuratorin führt uns durch die Räume: eine kleine Kiste, etwa so groß wie ein Schuhkarton, mit schwarzem Metall (Raketenteile), daneben Staubhaufen, die erst kürzlich zusammengefegt wurden. Die Kunst ist verschwunden, abgesehen von ein paar Skulpturen, die so verpackt sind, als ob sie schon immer so aussehen sollten. Zwei Tage zuvor schlug eine russische Rakete vor dem Haupttor in den Boden ein, und die Druckwelle beschädigte die Galerie. Nur die Drähte der Bilderrahmen und die Namensschilder sind geblieben. Ich bemerke einen der Künstlernamen: Robert Selskyi, Traces of War. Später lese ich, dass seine revolutionäre Kunst der 1930er Jahre auch den Potemkinschen Aufstand thematisiert. Das ist Odessa.
Samstag, 11. 11. / Uman, Kyiv
"Morning has broken", singt Christian, unser Fotograf mit einem ganz besonderen Musikgeschmack. An diesem Morgen, der in der kleinen Stadt Uman, genau in der Mitte zwischen Odesa und Kyiv, angebrochen ist, regnet es. Beim Frühstück besprechen wir die neuesten Sicherheitsupdates: Raketeneinschläge in Kyiv am frühen Morgen, die zum ersten Mal seit Wochen weder abgefangen noch von ihrem Abwehrsystem zerstört wurden. Polina sieht besorgt aus.
Wir begeben uns zur Pädagogischen Hochschule Uman und werden von Vladymyr, dem Hausmeister, einem bescheidenen Mann mit goldenen Händen, empfangen. Auf dem Weg zum Klassenzimmer komme ich an einer kleinen Nische vorbei, die wie ein Schrein aussieht und in der Porträts junger Männer und explodierte Munition ausgestellt sind. "Hochschulabsolventen, die die Ukraine vor der russischen Aggression beschützt haben", steht oben drauf. Einer der jungen Männer, Sergiy Fedorivskyi mit seinem schüchternen Lächeln, sieht genauso aus wie Deutschlands legendärer Fußballstürmer Miroslav Klose. “Stürmer”, denke ich. Seit diesem Krieg klingen die militärischen Begriffe im Fußball - Schießen, Angreifen, Verteidigen, Niederlage und Sieg - für mich seltsam.
Nach weniger als einer Stunde Vorbereitungszeit steht Pavlo im strömenden Regen auf einer wackeligen Leiter. Als er beginnt, ein Loch in die Wand der Hochschule zu bohren, um unseren Strahlungssensor zu installieren, ertönt ein weiterer Luftalarm...
Sonntag, 12. 11. / Kyiv / Tobias Muenchmeyer
Ein Tag ohne Luftalarm. Vielleicht der erste Tag, seit wir in der Ukraine sind? Ein Alarm allein sagt jedoch nicht viel aus. Man muss verschiedene Telegram-Kanäle abbonieren, um zu verstehen, um was für einen Alarm es sich handelt. Anne und Polina haben sich diese Aufgabe aufgeteilt. Dreimal orderten sie uns an, sofort in den Schutzraum zu gehen, einmal in Tschornobyl , einmal in Dnipro und einmal in Odesa, wo wir uns bereits während einer Besprechung im Keller befanden - und wo uns gesagt wurde, dass wir ihn nicht verlassen sollten, bevor der Alarm zu Ende war.
Das ist eine dieser paradoxen Auswirkungen des Krieges: Alle sagen einem, dass sie sich längst an den Alarm gewöhnt haben, dass sie keine Angst mehr haben und dass sie in den meisten Fällen nicht in einen Schutzraum gehen. Gleichzeitig habe ich begonnen, die Reaktionen der Menschen auf einen Luftalarm sehr genau zu beobachten. Als ich mit meiner Freundin Olha Kaffee trank und plötzlich ein Luftalarm ausgelöst wurde, schien es mir, als ob eine Art unsichtbare Jalousie herunterfährt und für einen winzigen Moment ihre Augen verdeckt.
Eine Sirene ist eine Sirene, oder? Nach einer Weile ist auch das nicht mehr wahr. Sie kann nah und laut sein, sie kann weit entfernt und leise sein, meistens hört man eine Solosirene, aber sie können auch im Duett oder Trio erklingen. Und manchmal klingt eine Sirene sogar wie eine Stimme, die kraftvoll oder klagend klingt.
Montag, 13. 11. / Kyiv / Tobias Muenchmeyer
Am Kyiver Opernhaus vorbei, gehe ich an der deutschen Botschaft vorbei. Morgen habe ich ein Treffen mit dem Botschafter. Die kleine Ausstellung vor der Botschaft, neben einem originalen Stück der Berliner Mauer, zeigt nur ein Plakat: "Deutsche Militärhilfe für die Ukraine". Dort sind ein ganzer “Zoo” von Leoparden, Geparden, Mardern und Bibers zu sehen, die an die Ukraine geliefert wurden. Ich hoffe, dass neben dieser Hilfe bald auch die andere dringend benötigte Unterstützung für die Ukraine ausgestellt wird: Hilfe beim grünen Wiederaufbau durch Bereitstellung eines modernen und widerstandsfähigen Energiesystems auf Basis erneuerbarer Energien. Als der deutsche Wirtschaftsminister Robert Habeck im April dieses Jahres nach Kyjiw kam, besuchte er das kriegsbeschädigte Krankenhaus in Horenka, das Greenpeace wieder aufgebaut hatte. Solarpaneele auf dem Dach, Wärmepumpen im Boden - keine Raketenwissenschaft, aber Habeck war beeindruckt: Es ist einfach und es funktioniert.
Dienstag, 14. 11. / Kyiv / Shaun Burnie
Zum ersten Mal besuche ich das Tschornobyl-Museum in Kyiv: Das Ausmaß der schlimmsten Nuklearkatastrophe in der Geschichte macht es zu einem Ort mit Hunderttausenden von Erinnerungen. Aber heute ist es auch ein Ort der Realität des Kriegees. Man sieht nicht nur Exponate aus dem Jahr 1986, sondern auch die Überreste vom heutigen Tschornobyl und der jüngsten russische Besetzung am ersten Tag des Krieges, wie unter anderem eine Metallkiste mit russischen Rationen von Einmachgläsern und Antipersonenminen. Eine Karte an der Wand erzählt die Geschichte des Angriffs, der Beschlagnahmung und der Besetzung des Atomkraftwerks Saporischschja durch Rosatom und die russischen Streitkräfte. Gesichter von Soldat:innen, Ingenieur:innen und Einwohner:innen von Pripjat schauen einen hinter dem Schutzglas an. Eine Schulklasse ist zu Besuch, und selbst während des russischen Krieges wird dieser Teil der Geschichte weitergelehrt...
Mittwoch, 15. 11. / Kyiv / Shaun Burnie
Am Vormittag treffen wir uns mit dem Regisseur eines neuen Dokumentarfilms über den russischen Angriff und die Besetzung von Tschornobyl. Die in dem Film gezeigten Zeugenaussagen von Arbeiter:innen, die sich den russischen Streitkräften entgegenstellten, sind wichtige Beweise für künftige Kriegsverbrecherprozesse, und ich bin dankbar für diese Arbeit. Später hören Jan und ich einem unserer ukrainischen Kollegen zu, der neu bei Greenpeace ist. Wir erfahren, dass sein Verwandter vor drei Generationen in der Nähe von Tschornobyl aufwuchs und ein Jahrhundert voller Krisen erlebte, darunter den Ersten Weltkrieg, die Hungersnot des Holodomor, den Einmarsch der Nazis und das Ende des Zweiten Weltkriegs. Das Dorf überlebte all dies, aber die radioaktive Verseuchung 1986 beendete seine Existenz.
Später am Abend hatten wir Gelegenheit, uns bei einem Abendessen mit unserem Team auszutauschen. Bei einer der vielen Portionen Borschtsch, die wir während unserer Zeit hier gegessen haben, sagt jeder von uns ein paar Worte der Wertschätzung. Es fühlt sich wirklich an wie Jahrzehnte des Lernens, seit wir hierher gekommen sind. Ich habe das Glück, dass ich dieses Wissen von so vielen brillanten Kolleg:innen erhalte und es ist eine große Ehre, mit den Menschen in der Ukraine zu arbeiten.
Donnerstag, 16. 11. / Kyiv / Tobias Muenchmeyer
Durch das Hotelfenster sehe ich einen wunderschönen Sonnenaufgang über dem Olympiastadion. Im Jahr 2012 hob der legendäre Iker Casillas aus Spanien den Pokal der Europameisterschaft nach einem 4:0-Finalsieg gegen Italien. Es war eine Zeit, in der Kyiv in den internationalen Nachrichten für etwas anderes stand: Fußball.
Heute treffen wir uns mit der ukrainischen NGO Truth Hounds, die Menschenrechtsverletzungen des russischen Atomriesen Rosatom dokumentiert hat. Es ist frustrierend zu sehen, dass trotz der von Truth Hounds vorgelegten Beweise gestern der ungarische Außenminister Peter Szijjarto und der Vorsitzende des russischen Atomriesen Rosatom, Alexey Likhachev, einen Plan zur Fertigstellung des ungarischen Kernkraftwerks Paks unterzeichnet haben. Es handelt sich dabei um dasselbe staatliche russische Unternehmen, das von Anfang an an der Besetzung der Kernkraftwerke Tschornobyl und Saporischschja beteiligt war. Greenpeace fordert die EU auf, endlich Sanktionen gegen Rosatom zu verhängen.
Freitag, 17. 11. / Kyiv / Tobias Muenchmeyer
Der Tag der Pressekonferenz im "Ukraine Crisis Media Centre" in Kyiv. Es befindet sich im Herzen des Stadtzentrums von Kiew am Europäischen Platz, in der Nähe der Philharmonie. Im Jahr 2014 spielte es eine entscheidende Rolle in den friedlichen Maidan-Protesten, und ich erinnere mich an das kreative Chaos, das sich dort abspielte, nur hundert Meter von den Barrikaden entfernt: Künstler:innen entwarfen Helme, ältere Menschen brachten Kisten mit Literatur für eine improvisierte Maidan-Bibliothek, ein Dichter rezitierte eigene Verse, es gab eine Sammelstelle für warme Kleidung für die Protestierenden, eine ältere Frau spielte Jazz auf einem Klavier, ein Erste-Hilfe-Zentrum im Keller, Protestierende ruhten sich in Schlafsäcken aus, und eine Gruppe von "Maidan University"-Studenten analysierte Immanuel Kants Konzept des "ewigen Friedens" - alles ein wenig utopisch. Ich liebte es.
10 Jahre später sehe ich meine Kolleg:innen, die sich auf unsere Pressekonferenz vorbereiten. Shaun und Daryna besprechen einige Details des Zeitplans, Jan liest in Notizen, Polina testet das Mikrofon und Pavlo trinkt ein Glas Wasser. Dann ist es 12:30 Uhr, und wir gehen live. Dann hat unsere nukleare Odyssee ein Ende gefunden.