Tiefseefischerei: Raubbau in der Finsternis
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In der Tiefsee ist es stockdunkel, kalt, und es herrscht ein enormer Druck. Durchschnittlich sind die Weltmeere 3.000 Meter tief, doch es geht viel weiter hinab, bis 11.034 Meter im pazifischen Marianengraben. Mit jedem Meter abwärts steigt der Druck der Wassersäule um 0,1 bar. So beträgt der Druck in 1.000 Metern Tiefe 100 bar – das bedeutet, dass auf dem Körper eines Lebewesens pro Quadratzentimeter ein Gewicht von 100 Kilogramm lastet.
Trotz dieser extremen Bedingungen gibt es in der Tiefsee erstaunlich viel Leben. Viele Bewohner der Finsternis sehen sonderbar aus, manche sogar furchterregend: Fische mit riesigen Augen und Mäulern und langen, scharfen Zähnen. Das Nahrungsangebot in der Tiefsee ist knapp. Da muss man gewappnet sein – selbst gegen größere Gegner. Andere Tiere sind mit Hilfe von Bakterien in der Lage, Leuchtsignale auszusenden, um einen Partner oder potentielle Opfer anzulocken. Wissenschaftler schätzen die Vielfalt in der Tiefsee auf über zehn Millionen Arten. Bisher wurden bei „Volkszählungen“ unter Wasser rund 18.000 Arten entdeckt – und nur ein Bruchteil dieses gigantischen Lebensraumes ist bislang erforscht.
Oasen der Tiefsee
Besonders artenreich sind Unterwassergebirge (Seamounts), die bis zu 1.000 Meter vom Meeresboden bis in lichte Wasserschichten aufragen. An den Bergflanken steigen nährstoffreiche Strömungen auf, die zusammen mit dem Licht von oben für reichlich Plankton im Wasser sorgen: Futter für andere Meeresbewohner. In Felsspalten und Sedimenten leben unter anderem Würmer, Muscheln, Schnecken und kleine Krustentiere. Und auf dem Gestein siedeln Seefächer, Schwämme und Korallen, von denen manche mehrere Tausend Jahre alt sind. Diese wiederum locken zahlreiche Fische, Krebstiere und Kalmare an, die zwischen ihnen laichen, Schutz suchen oder auf Beute lauern.
Verwüstung und Verschwendung
Auf Beute lauern hier leider auch Fischer. Weil die Küstengewässer nicht mehr genug hergeben, fahren sie mit großen leistungsstarken Trawlern immer weiter hinaus. Ausgestattet mit moderner Navigations- und Sonar-Elektronik, machen sie in bis zu 2.000 Meter Tiefe Jagd auf Granatbarsch, Grenadierfisch, Blauleng, Petersfisch oder auch Schwarzen Degenfisch. In der Regel benutzen sie dazu Grundschleppnetze mit tonnenschwerem Eisengeschirr und Öffnungen so groß wie ein Fußballfeld. Das Gewicht drückt das Netz zu Boden, Scherbretter halten es im Fahrtsog geöffnet. So wird der Meeresgrund regelrecht umgepflügt und alles mitgerissen oder zermalmt, was dort wächst, krabbelt oder schwimmt. Übrig bleiben blanker Fels, Geröll und Korallenschutt. 30 bis 60 Prozent des Fangs sind für die Fischer nutzlos und gehen schwer verletzt oder tot wieder über Bord. Ganze Lebensräume werden irreparabel zerstört, bevor die Menschheit sie überhaupt kennen lernen konnte.
Ein Problem ist auch, dass Tiefseefische extrem langsam wachsen und spät geschlechtsreif werden. Einige Arten können über 100 Jahre alt werden – wenn man sie am Leben lässt – und bekommen erst mit 20 Jahren Nachwuchs. Einmal ausgebeutete Fischbestände erholen sich in absehbarer Zeit nicht mehr. Der wirtschaftliche Nutzen ist klein, der ökologische Schaden groß.
Löchriges Flickwerk an Regeln
Die Fischerei in der Tiefsee ist unterschiedlich geregelt, je nach Einsatzgebiet. Auf der Hohen See – außerhalb der 200-Seemeilen-Zonen vor den Küsten – wird sie überwiegend von Regionalen Fischereimanagement Organisationen (RFMO) geregelt, etwa von der North East Atlantic Fisheries Commission (NEAFC) oder der Northwest Atlantic Fisheries Organisation (NAFO).
2003 stellte die Europäische Union im Rahmen ihrer Gemeinsamen Fischereipolitik Regeln für europäische Trawler auf, die in EU- oder internationalen Gewässern bestimmte Tiefseearten fangen. Auch Quoten wurden festgelegt. Doch das Ziel, Ausbeutung und Zerstörung zu verhindern, wurde verfehlt.
In der EU wurden 2008 etwa 43.000 Tonnen Fisch in der Tiefsee gefangen. Ein Greenpeace-Bericht „Until the very last fish?“ von 2011 wirft ein Schlaglicht auf die europäische Tiefseefischerei. Sie ist ein weiterer Beleg für den unsinnigen Umgang mit EU-Subventionen: Steuergelder finanzieren brutale Fischereimethoden und die Zerstörung faszinierender Ökosysteme.
Grundschleppnetze verbieten
Dringend notwendig ist ein Sofortverbot der Grundschleppnetzfischerei auf der Hohen See. Neben Greenpeace sprachen sich in den vergangenen Jahren bereits zahlreiche andere Umweltorganisationen sowie renommierte Wissenschaftler rund um den Globus für ein Moratorium aus. Dies können nur die Vereinten Nationen (UN) aussprechen. 2006 und 2009 hatte die UN-Vollversammlung immerhin zwei Resolutionen verabschiedet, die Staaten und regionale Fischereiorganisationen auffordert, "den Schutz empfindlicher Tiefseeökosysteme vor den schädlichen Auswirkungen von Grundfanggeräten zu gewährleisten und eine nachhaltige Nutzung der Tiefseebestände sicherzustellen".
Im September 2011 trafen sich Experten am UN-Sitz in New York, um die internationalen Anstrengungen für die Hohe See zu evaluieren. Das Ergebnis: Viele Länder setzen über die akzeptierten Vereinbarungen einfach hinweg. Der Versuch einer Schadensbegrenzung hat also nichts bewirkt. Im Juli 2012 schlug die Europäische Kommission unter der Leitung von Fischereikommissarin Maria Damanaki vor, Grundschleppnetze in der europäischen Tiefsee dauerhaft zu verbieten – allerdings binnen einer Übergangsfrist von zwei Jahren. Jetzt hofft die Kommission auf die Zustimmung des Parlaments. Ein Lichtlein in der Finsternis.
2011_09_Tiefseefischerei_ocean_inquirer_sea-crimes.pdf
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