Glaubwürdigkeit - das wichtigste Kapital einer NGO
- Hintergrund
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Bei Umfragen zur Glaubwürdigkeit verschiedener Organisationen und Institutionen zeigt sich immer wieder das große Vertrauen, das Nichtregierungsorganisationen (NGOs) entgegengebracht wird. Greenpeace belegt dabei regelmäßig einen Spitzenplatz. Dieser Vertrauensbonus kam der Organisation auch bei der Brent Spar-Kampagne 1995 zugute, die dazu führte, dass der Ölkonzern Shell seinen Plan aufgab, die ausgediente Ölverlade-Plattform im Nordost-Atlantik zu versenken.
Doch Greenpeace unterlief ein Fehler, der die Frage aufwirft, welche Konsequenzen er für die Bewertung der Glaubwürdigkeit hat: Gegen Ende der Kampagne veröffentlichte die Organisation eine fehlerhafte Hochrechnung zur Restmenge an Ölschlämmen. Statt der bis dahin genannten 130 Tonnen Ölschlämme wurden 5500 Tonnen in den Tanks der Brent Spar vermutet. Der Fehler betrifft nicht nur die Glaubwürdigkeit in diesem Einzelfall, er liefert einen zwingenden Anlass, die Kampagnenkommunikation insgesamt daraufhin zu untersuchen, welche Risiken sie für die Glaubwürdigkeit von Greenpeace mit sich bringt.
Betrachtet man zunächst die Ausgangsbedingungen für eine Greenpeace-Kampagne, so gibt es mehrere Gründe, warum NGOs im Regelfall einen Glaubwürdigkeitsvorsprung vor Parteien oder Industrievertretern haben:
- Weil NGOs sich für öffentliche Güter wie den Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen einsetzen oder für humanitäre Ziele, kann man ihnen schwerlich einen Eigennutz unterstellen. Organisationen wie Greenpeace nimmt die Öffentlichkeit eher ab, dass sie sich wirklich für die Sache engagieren.
- Im Unterschied zu Parteien, die nach durchsetzungsfähigen Mehrheiten suchen und Interessen bündeln müssen, brauchen NGOs nicht ständig Kompromisse einzugehen. Sie können ihre Anliegen geradliniger vertreten und muten ihren Unterstützern deshalb weniger Enttäuschungen zu.
- Durch ihre inhaltliche Spezialisierung können NGOs ein großes Fachwissen in ihrem Teilgebiet erwerben. Sie müssen im Unterschied zu Parteien nicht auf jedes gesellschaftliche Thema reagieren. Ihre Fachkompetenz erhöht die Glaubwürdigkeit.
- Während Politiker immer auf den nächsten Wahltermin schauen müssen und sich an kurzfristigen Zielen orientieren, arbeiten NGOs im Regelfall mit langfristiger Perspektive. Diese Hartnäckigkeit wird von den Unterstützern honoriert.
Während diese Faktoren auf alle NGOs zutreffen, gibt es bei Greenpeace noch einige spezielle Faktoren, die die Glaubwürdigkeit stärken. Das wird anhand von Umfragen deutlich, die mehrere NGOs einbeziehen, so wie es das Allensbach-Institut im Herbst 2002 bei einer Umfrage zum Umweltschutz gemacht hat. Das konservative Institut ist dabei einer besonderen Greenpeace-Sympathie sicherlich unverdächtig. Die Tabelle zeigt die Ergebnisse dieser Befragung von insgesamt 2081 Bundesbürgern über 16 Jahre.
Wie ist dieser Vertrauensbonus für Greenpeace zu erklären? Die Ablehnung, die eine Regelverletzung bei einem Teil der deutschen Öffentlichkeit hervorruft, wird offenbar mehr als aufgewogen durch die Anerkennung, die mit dem persönlichen Risiko der Aktivisten einhergeht. Die Bevölkerung honoriert also, dass die politischen Forderungen von Greenpeace keine Rhetorik sind, sondern durch persönliches Handeln untermauert werden. Die Glaubwürdigkeit resultiert somit aus der für jeden offensichtlichen Einheit von Reden und Handeln.
Da Greenpeace die direkte Aktion gewählt hat, um auf umweltpolitische Missstände aufmerksam zu machen, lehnt sich das Politikmodell der Organisation wesentlich näher an den persönlichen Erfahrungsbereich der Bürger an als dies normalerweise in der Politik der Fall ist. Die Erfahrung, dass inhaltliche Ziele und Taten zusammengehören, wird durch die Aktionen fortlaufend in Erinnerung gerufen. Diese Verlässlichkeit der Greenpeace-Strategie, die in dem Organisationsslogan Taten statt Warten auf den Punkt gebracht wird, folgt dem Glaubwürdigkeitsmerkmal der Kohärenz: Vertrauen stellt sich ein durch eine ständig wiederholte Erfahrung - in diesem Fall, dass die Aktivisten unter persönlich riskantem Einsatz ein öffentliches Gut verteidigen (Gesundheit, Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen).
Ein weiterer Faktor ist in diesem Zusammenhang das oft zitierte David-gegen-Goliath-Schema: Aktivisten, die freiwillig einen starken Gegner herausfordern, gehen offensichtlich nicht den Weg des geringsten Widerstandes, sondern nehmen erstens ein Risiko in Kauf und müssen zweitens von der Lauterkeit ihrer Ziele absolut überzeugt sein. Der moralische Anspruch, mit dem Greenpeace sich für den Schutz öffentlicher Güter einsetzt, bietet überdies ideale Identifikationsmöglichkeiten für die Teile der Öffentlichkeit, die das inhaltliche Anliegen wichtig finden, aber selbst nicht aktiv werden können und daher das Stellvertreterhandeln durch Greenpeace begrüßen.
All diese Faktoren, die zur Glaubwürdigkeit von Greenpeace beitragen, haben allerdings eine ebenso simple wie zentrale Grundvoraussetzung: dass der Wahrheitsgehalt zentraler Argumentationen, auf denen eine Kampagne basiert, nicht erschüttert werden kann. Was sich selbstverständlich anhört, ist weitaus komplexer, als man zunächst denkt, denn bei etlichen Themen aus der Umweltdebatte gibt es widerstreitende Wahrheitsbehauptungen - je nachdem, welche Experten zu Rate gezogen und welche Risiken als tragbar oder als zu weitgehend bewertet werden. Hinzu kommt, dass Greenpeace mit dem Mittel der Kampagnenpolitik arbeitet und deshalb eine gewisse Zuspitzung der eigenen Argumentation braucht. Chancen und Risiken einer solchen Politikstrategie werden im Fall der Brent Spar-Kampagne besonders deutlich.
Glaubwürdigkeit im Fall Brent Spar
Bei der Brent Spar-Kampagne hat Greenpeace von Anfang an diese Plattform als Präzedenzfall für alle im Nordost-Atlantik anstehenden Versenkungen angesehen. Es ging also bei der Besetzung um Grundsatzfragen: Erstens darum, dass ein allgemeines Versenkungsverbot gefordert wurde, über die Frage hinaus, welchen ökologischen Schaden die Versenkung dieser einen Plattform anrichten würde. Zweitens ging es um das Prinzip, dass es als nicht tragbar hingenommen werden konnte, dass ein Ölkonzern aus ökonomischen Gründen das Recht erhalten sollte, ein mit Schadstoffen belastetes Industrieobjekt zu versenken, während Privatpersonen zu Recht in die Pflicht genommen werden, ihren Müll umweltschonend zu entsorgen.
So geeignet sich das Instrument der Kampagne auch erwies, das Thema Brent Spar bekannt zu machen, ist es der Organisation offensichtlich nur mit Abstrichen gelungen, den Symbolcharakter der Plattformbesetzung zu vermitteln. Das dahinter liegende Ziel eines generellen Versenkungsverbots wurde zwar durch die folgenden politischen Weichenstellungen der OSPAR-Konferenz erreicht. Es ist der Öffentlichkeit aber wesentlich weniger präsent als die dramatischen Bilder von der Plattformbesetzung. Diese verkürzte Wahrnehmung der Greenpeace-Ziele stellt sich im Zusammenhang mit der falschen Hochrechnung von Ölschlämmen in den Tanks der Brent Spar als großes Glaubwürdigkeitsrisiko heraus. Nicht die Grundsatzargumentation von Greenpeace zum Schutz der Meere prägte sich ein, sondern das Symbol Brent Spar. Damit wurde auch die Glaubwürdigkeitsfrage nicht so sehr am richtigen Grundsatz, sondern an Details rund um die Brent Spar festgemacht. Ein Fehler im Detail konnte somit zum Glaubwürdigkeitsrisiko für die ganze Organisation werden.
In der Argumentation von Greenpeace gegen die Versenkung hatte von Beginn der Kampagne am 30. April 1995 an die Menge der Schadstoffe auf der Brent Spar nur eine untergeordnete Rolle gespielt. Zahlen, die Greenpeace dazu veröffentlichte (100 bis 130 Tonnen), stammten aus Unterlagen der Shell. Eine Presseerklärung, die diese Linie verließ und in der erstmals von 5500 Tonnen Öl die Rede war, verbreitete das britische Greenpeace-Büro am 16. Juni. Greenpeace Deutschland schloss sich am 18. Juni - zwei Tage vor der Entscheidung von Shell, die Versenkungspläne aufzugeben - mit einer zurückhaltend formulierten Presseerklärung an, in der es u.a. hieß: Die inzwischen vom Labor der Universität Exeter ausgewerteten Proben und Mengenhochrechnungen stützen trotz der wissenschaftlich nicht exakt gesicherten Beprobungstechnik die Aussage, dass sich an Bord der Plattform noch 5500 Tonnen Öl und Ölrückstände befinden könnten.
Diese Mengenangabe basierte auf einer Hochrechnung des Labors, das eine improvisierte Probenahme durch Greenpeace-Aktivisten ausgewertet hatte. Während das Labor seiner Berechnung zugrunde legte, dass es sich um Proben aus einem Tank der Brent Spar gehandelt habe, war die Probenahme tatsächlich nicht so weit vorgedrungen und hatte nur Material aus einem Lüftungsrohr des Tanks geliefert. Der so genannte Messfehler am Ende der Brent Spar-Kampagne beruhte also auf einem fehlerbehafteten und nicht weiter überprüften Laborergebnis.
Die Zahl von 5500 Tonnen wurde von den Medien kaum aufgegriffen. Für den Verlauf der Kampagne spielte sie deshalb, vielmehr aber wegen des späten Zeitpunkts der Veröffentlichung, gar keine Rolle.
{image}Als sich bei Greenpeace später die Einsicht durchsetzte, dass die Hochrechnung falsch war, entschuldigte sich die Organisation bei Shell für die Verbreitung der falschen Berechnung. Erst dann, Anfang September 1995, erhielt die Mengenangabe eine grundsätzliche Bedeutung: In der Rückschau setzte sich die Einschätzung durch, Green-peace habe die gesamte Kampagne auf falschen Zahlen aufgebaut und so die Öffentlichkeit getäuscht.
Diese Erfahrung zeigt deutlich die Grenzen von Kampagnenpolitik: Indem Greenpeace sich in seinen Aktionen auf plakative Einzelfälle bezieht, die ein größeres Problem illustrieren, wird in Kauf genommen, dass nur wenige Fachpublikationen und Qualitätsmedien den gesamten Zusammenhang darstellen, während die breite Masse sich auf das konkrete Beispiel bezieht. An diesem Einzelfall muss dann allerdings jedes Detail stimmen. Ein Fehler stellt in der Rückschau gleich die Glaubwürdigkeit insgesamt in Frage.
Wer wie Greenpeace in sehr konfrontativer und kämpferischer Form Vorwürfe erhebt, muss damit leben können, dass auch die Gegenseite jeden Fehler nutzen wird. Die politische Arbeit mit dem Mittel der Kampagne erfordert deshalb bei aller Zuspitzung eine besondere Sorgfalt im Umgang mit den Fakten. In dieser Hinsicht ist die falsche Hochrechnung zu den Ölschlämmen ein Kardinalfehler, der auf keinen Fall passieren durfte.
Konsequenzen des Messfehlers
Bis heute wirkt das Menetekel des so genannten Messfehlers vor allem im Kontakt mit Journalisten fort, denn viele erinnern sich in eher diffuser Weise daran, dass bei der Brent Spar-Kampagne doch nicht alles stimmte, was Greenpeace behauptet hat. Weil die Organisation es zunächst versäumte, die Darstellung richtig zu stellen, die gesamte Kampagne sei auf falschen Zahlen aufgebaut gewesen, hat diese Version außerdem mittlerweile ihren Eingang in etliche Pressearchive und Buchveröffentlichungen gefunden. Sie reproduziert sich deshalb zu einem gewissen Grad selbst, sobald ein Journalist nachschlägt, was denn 1995 geschehen ist. Es ist somit davon auszugehen, dass Greenpeace noch Jahre damit zu tun haben wird, die Glaubwürdigkeitsverluste bei Medienvertretern wieder auszugleichen.
Anders verhält es sich übrigens mit der allgemeinen Öffentlichkeit. Entgegen der landläufigen Meinung hat Greenpeace durch die Brent Spar-Kampagne keine gravierende Veränderung bei den Spendeneinnahmen erfahren und auch keinen nachhaltigen Imageschaden erlitten. Die Spendeneinnahmen von Greenpeace Deutschland, dem bei der Brent Spar-Kampagne federführenden nationalen Büro, stiegen von 71,2 Millionen Mark im Jahr 1994 auf 72,7 Millionen im Jahr 1995, um schließlich 1996 auf 69,6 Millionen Mark zurückzugehen. Sie bewegen sich seitdem trotz der wirtschaftlichen Krise in Deutschland auf einem in etwa gleichbleibenden Niveau, wobei 2004 mit rund 40 Millionen Euro der bisher höchste Wert erreicht wurde.
Breite Unterstützung und gutes Image für Greenpeace
Nach wie vor unterstützen in der Bundesrepublik jedes Jahr über eine halbe Million Menschen Greenpeace durch eine Spende. Im Jahr 2004 wurde mit 547.000 Förderern ein neuer Rekord erzielt. Das Imageprofil von Greenpeace wird in regelmäßigen Abständen durch eine repräsentative Bevölkerungsumfrage erforscht, die Emnid vergleichend für alle größeren Spendenorganisationen in Deutschland durchführt. Dabei erzielt Greenpeace über die Jahre weitgehend gleichbleibend hohe Werte bei den Merkmalen Wirkung, Kompetenz und Professionalität, die vor den anderen Umweltverbänden liegen und hinter Ärzte ohne Grenzen oder den SOS-Kinderdörfern, also Spendenorganisationen, die weitaus weniger polarisieren, als Greenpeace es tut.
Die Tatsache, dass der Brent Spar-Fehler nicht zu einem Vertrauensverlust in der Gesamtbevölkerung geführt hat, kann allerdings kein Grund sein, mit dieser Panne leichtfertig umzugehen. So hat Greenpeace als eine der Konsequenzen die Recherche-Abteilung erheblich ausgebaut und professionalisiert. Das geschärfte Bewusstsein, dass die Glaubwürdigkeit das zentrale Kapital der NGOs ist, hat zu besseren Routinen der internen Qualitätskontrolle geführt, die sich z.B. in kodifizierten Regeln niederschlagen, wie Proben zu nehmen sind, oder in der Vorgabe, dass zwei Labore unabhängig voneinander Mess- und Analyseergebnisse überprüfen, bevor Messdaten veröffentlicht werden dürfen. Der Schock, den die falschen Messergebnisse auch organisationsintern ausgelöst haben, hatte also eine positive Wirkung, weil seitdem die eigenen Professionalitätsansprüche klarer formuliert wurden und deren Einhaltung strenger kontrolliert wird.